Erinnerung:Als wäre es gestern gewesen

Ein Filmabend und eine Diskussion über die Anfänge von Dachau-Ost und das Leben der Flüchtlinge im ehemaligen KZ

Von Petra Schafflik, Dachau

Die Stuhlreihen im Bürgertreff Dachau-Ost haben sich bereits geleert, da warten noch einige ältere Damen geduldig, um Jutta Neupert persönlich zu danken. Kurz zuvor hatten sich gut 120 Besucher im völlig überfüllten Saal gedrängt, um zwei historische Filmdokumente zum Wohnlager Dachau-Ost zu sehen, welche die Dachauer Filmemacherin und BR-Journalistin Jutta Neupert bei Recherchen entdeckt hat. Fast 60 Jahre verstaubten die beiden 20-minütigen Schwarz-Weiß-Sequenzen in den Archiven des Bayerischen Rundfunks, jetzt lösten sie bei den vielen älteren Zuschauern eine Welle von Erinnerungen aus.

"Mit dieser Resonanz habe ich nicht gerechnet", sagte Neupert, die das sehr emotionale Filmgespräch nach der Vorführung moderierte. Angesichts des großen Interesses planen die Organisatoren im Bürgertreff eine zweite Vorführung. Neupert geht noch weiter: Aus den BR-Archiven, wo sie unbeachtet liegen, sollten die Bilddokumente nach Dachau-Ost abgegeben werden, findet die Filmemacherin.

"Diese Filme sind Ihr Erbe, es gehört zu Ihnen und deshalb hierher." Der Blick der Kamera gleitet langsam an der trostlosen Mauer vorbei, erfasst einen maroden Wachturm mit eingeschlagenen Fenstern, schwenkt auf schlecht befestigte Wege zwischen langen Baracken. Wäsche flattert auf der Leine, eine Frau schiebt einen Kinderwagen vorbei, Mädchen und Buben spielen Fangen. Beide Filme, 1959 und 1963 in der ARD ausgestrahlt, zeigen recht schonungslos die Situation der Menschen im Wohnlager Dachau-Ost auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. Die Dokumentationen wollten damals aufrütteln und mahnen, dass so viele Jahre nach Kriegsende noch immer Menschen auf dem KZ-Gelände leben müssen, eine Gedenkstätte noch nicht entstanden ist. Was es gibt, auch das zeigen die Aufnahmen, ist eine provisorische Ausstellung im Krematorium. Und Postkarten mit Fotos der im KZ verübten Gräueltaten, die laut Filmkommentar in der Todesangst Christi Kapelle als Souvenir verkauft werden, während sich nebenan im so genannten Heimatstüberl Bewohner des Wohnlagers auf ein Bier treffen.

Filmabend

Die Dachauer Regisseurin Jutta Neupert hat historisches Filmmaterial über das Leben im ehemaligen Konzentrationslager Dachau entdeckt.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

"Wohnsiedlung Dachau-Ost ist ihre Adresse, ein Massengrab ihre Nachbarschaft" mahnt der Filmkommentar. In kurzen Statements erzählen Bewohner, die teilweise schon seit zehn Jahren im Lager leben, dass ihnen eine bessere Zukunft aussichtslos, eine bezahlbare Wohnungen unerreichbar erscheint.

Die Bilddokumente, so kurz und nüchtern sie sein mögen, wecken bei den Zuschauern viele emotionale, persönliche Erinnerungen. Denn viele haben selbst im Lager gelebt, wie sich im folgenden Filmgespräch zeigt. Wo der Film die schlechten Wohnverhältnisse anprangert, haben die Zuseher, die damals Kinder waren, positive Bilder im Kopf. "Die Zeit im Lager war eine richtig gute Erfahrung, wir waren wie eine große Familie", erinnert sich eine Frau. Die Kinder hätten das Leben im Wohnlager "als Abenteuer" erlebt, wird erzählt. "Als wir weggezogen sind, war das für mich das Schlimmste", so eine Besucherin. "Draußen" seien die "Lagerkinder" angefeindet, in der Schule diskriminiert worden. Mit den "Stadt-Kindern" habe es kaum Verbindungen gegeben. Applaus erntet eine ältere Dame für ihr Statement, "im Lager, das war eine schöne Zeit".

Doch nicht alles war heile Welt, rückt Dieter Navratil vom Bürgertreff-Team die Erinnerungen ein wenig zurecht. Navratil, selbst in Baracke 10 des Wohnlagers aufgewachsen, wie er berichtet, erinnert an Streitigkeiten, Diebstähle und Schlägereien, die es neben dem Gemeinschaftsgeist auch gegeben habe. Die wichtige Rolle von Pater Leonhard Roth in der Nachkriegszeit wird diskutiert, der auf die schlimmen Verhältnisse im Wohnlager hingewiesen habe, aber innerhalb der Kirche "persona non grata" gewesen sei.

Filmabend

Die Bilder und Erzählungen ließen Erinnerung über Erinnerung im Dachauer Bürgertreff in Dachau-Ost lebendig werden.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Das Mitteilungsbedürfnis des stark berührten Publikums ist groß, die Diskussion im überfüllten Saal gestaltet sich nicht einfach. Jutta Neupert muss als Moderatorin oft nachfragen, wiederholen und um Geduld bitten. Ein Blick hinaus über die historische Situation auch auf Parallelen zur aktuellen Lage von Flüchtlingen wird nicht mehr möglich. Viel zu groß ist das Bedürfnis, gemeinsame Erinnerungen abzugleichen, Begebenheiten zu berichten.

Achim Liebl vom Bürgertreff-Vorstand kündigt angesichts des enormen Interesses eine zweite Vorführung der Filme an. Dazu könnte auch ein Workshop mit begrenzter Teilnehmerzahl sinnvoll sein, überlegt Jutta Neupert. Vor allem aber sollten die Filme, die seit ihrer ersten Ausstrahlung nie mehr im Fernsehen gesendet worden sind, aus den Archiven des Bayerischen Rundfunks nach Dachau-Ost kommen, findet Neupert. Da die Filmdokumente eindeutig zum historischen Erbe dieses jungen Stadtteils gehören. Die Filmemacherin sagt den Bürgern ihre Unterstützung zu. "Schauen wir, dass wir das hinkriegen."

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