Es war Ende November 1941 und so kalt, dass die SS-Männer auf dem Schießplatz Hebertshausen Pelzmäntel trugen. Die 200 gefangenen Rotarmisten, die man ihnen überstellt hatte, mussten sich nackt ausziehen und in Fünfer-Reihen aufstellen. Dann wurden sie einzeln begutachtet. Die allermeisten Gefangenen wurden an ein Tor geschickt, die anderen, es waren 23, vor eine Mauer. Unter ihnen war auch der damals 24-jährige Moisej Temkin. "Meine Gedanken begannen zu kreisen, ich zitterte vor Angst und Kälte", schrieb er in seinen Erinnerungen. Es schien klar, dass man sie aus der Menge herausgepickt hatte, um sie zu erschießen. Doch es kam anders: Die SS-Leute brachten alle um - bis auf die 23. Deren Arbeitskraft wurde noch benötigt. Moisej Temkin, Jude und Rotarmist, überlebte wie durch ein Wunder zehn Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis, allein in Dachau war er zweimal.
Nun ist sein Sohn Benjamin aus Israel an den Ort gekommen, den sein Vater immer nur "Hof am Tor" nannte. Dieser Freitag ist ein großer Tag für ihn, denn der neugestaltete Gedenkort "Ehemaliger SS-Schießplatz Hebertshausen" wird in einem feierlichen Akt der Öffentlichkeit übergeben. Eine Freiluft-Ausstellung informiert nun ausführlich über die historischen Hintergründe. Im Zentrum stehen die Biografien einzelner Opfer. Weitere Schwerpunkte sind die Rolle der SS-Täter und das Wissen der Bevölkerung über das Verbrechen.
Eingeweiht wird auch die Gedenkinstallation "Ort der Namen". Sie besteht aus fünf in den Boden eingelassenen Streifenfundamenten, auf denen die Gedenktafeln mit den Namen der Ermordeten in kyrillischer und lateinischer Schrift stehen. Ausgehend von einer Mindestzahl von 4000 Opfern bieten die Betonstreifen mit einer Länge von 40 Metern Platz für die Namen aller Ermordeten. 17 Module mit 850 Namen sind bereits angebracht. Nur mit intensiven Recherchen war es der KZ-Gedenkstätte möglich, die Einzelschicksale zu rekonstruieren. Wohlwissend, dass die Ermordung der Kriegsgefangenen völkerrechtswidrig war, legten die Nazis nur Sammelvermerke an.
KZ-Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann ging es bei dem Projekt nicht nur darum, einen bislang immer noch unzureichend erforschten Verbrechenskomplex der NS-Vergangenheit wissenschaftlich aufzuarbeiten, sondern auch um ein "zutiefst humanitäres Anliegen": nämlich den Hinterbliebenen Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen zu geben und einen Ort zum Trauern und Gedenken. In der Dachauer KZ-Gedenkstätte geht man davon aus, langfristig 1500 bis 2000 Namen recherchieren zu können.
Vielleicht könnten es sogar noch etwas mehr werden: Der russische Botschafter Wladimir M. Grinin brachte eine CD des russischen Verteidigungsministeriums mit zur Gedenkfeier, auf der 200 Namen ermordeter Sowjetsoldaten vermerkt sind. Grinin würdigte die Erinnerungsarbeit als wichtigen Beitrag zur Versöhnung zwischen Deutschen und Russen. Er bringt aber auch zum Ausdruck, dass er sich wünschen würde, dass mehr junge Menschen - Schüler, Studenten und Auszubildende - diesen Gedenk- und Lernort aufsuchen. Der weißrussische Botschafter Andrei Giro erinnert daran, dass 2,2 Millionen seiner Landsleute im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden. Auch viele Ukrainer wurden von der SS in Dachau bestialisch ermordet. Allerdings sieht sich von deren Seite kein offizieller Vertreter imstande, ein paar Worte zu sprechen. Die Ukraine-Krise wirft ihre Schatten auch auf die Gedenkveranstaltung in Hebertshausen. So sprachen der russische Botschafter Wladimir M. Grinin und sein weißrussischer Kollege Andrei Giro allein ein Grußwort.
Lange war die Ermordung der Sowjetsoldaten "ein weißer Fleck in der Erinnerungskultur", wie Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann sagt. "Im antikommunistischen Konsens wurde ihre Geschichte verdrängt". So wurde auch der "Schießplatz Hebertshausen", obwohl zentraler Schauplatz der Geschichte, jahrzehntelang dem Verfall preisgegeben. Erst 1998 wurde er überhaupt erst der KZ-Gedenkstätte Dachau zugeschlagen, 2001 die sterblichen Überreste der ermordeten Rotarmisten endlich würdig beigesetzt.
Der bayerische Kultusminister Ludwig Spaenle bekennt sich ausdrücklich zu der großen Verantwortung, die Deutschland und auch dem Freistaat aus der Vergangenheit zukomme. "Wir dürfen und wollen die Geschichte nicht vergessen, sondern daraus lernen." Karl Freller, Direktor der Stiftung Bayerischer Gedenkstätten, sagt: "Diese Dokumentation am historischen Ort ist ein wichtiger Schritt, um das hier an sowjetische Kriegsgefangene begangene Verbrechen noch stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern."
Auch Dachau hat sich gewandelt. Nach jahrzehntelangem Leugnen und Verdrängen setzt sich Dachau heute als Lern- und Erinnerungsort offensiv mit seiner NS-Vergangenheit auseinander. Der Präsident der Lagergemeinschaft Max Mannheimer nutzt die Feierstunde dennoch zu harscher Kritik an der Stadt. Die Unterbringung von Obdachlosen in den Baracken am Kräutergarten, die ein Teil des alten KZ-Komplexes sind, zeugten immer noch "von einer Ignoranz gegenüber den Überlebenden", sagt er. "Und auch gegenüber den Obdachlosen." Man darf es als Fingerzeig für den neuen Dachauer Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) verstehen. Neben Hartmann sind auch sein Hebertshausener Kollege Richard Reischl (CSU) gekommen, der neue Landrat Stefan Löwl (CSU), die Landtagsabgeordneten Bernhard Seidenath (CSU), Martin Güll (SPD), die Grünen-Bundestagsabgeordnete Beate Walter-Rosenheimer und die Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Gerda Hasselfeldt. Moisej Temkin hätte es sicherlich gefallen. "Das hat ihm in seinem Leben immer gefehlt", sagt sein Sohn Benjamin: "Diese öffentliche Anerkennung."