Süddeutsche Zeitung

Drei Dachauer Geschichten:Flucht in den Westen

Bernd Rath, Gerd Schott und Andreas Kreutzkam haben rüber gemacht. Sie erzählen von ihren zum Teil spektakulären Geschichten, ihren Erfahrungen und der Einstellung zur Wiedervereinigung

Von Julia Putzger, Dachau

Wann genau er die Grenze überquert hat, weiß er nicht. Eingeengt im Kofferraum eines Autos, in das er wortlos eingestiegen ist und dessen Fahrer er nicht kennt, kann er nur ahnen, wie viel Zeit vergangen ist und hoffen, dass, wenn das Fahrzeug anhält und die Türen geöffnet werden, er unbehelligt aussteigen kann - auf bundesdeutschem Boden. Bernd Rath hat Glück - seine Flucht aus der DDR gelingt, der Weg nach München und später Karlsfeld ist frei.

Im Jahr 1982 ist das und Rath riskiert, seine nächsten Jahre hinter Gitterstäben zu verbringen - doch die große Freiheit im Westen ruft. Nur wenige Jahre später, am 9. November 1989 folgen viele weitere Menschen aus der DDR diesem Ruf. Diesmal jedoch nicht bei akribisch geplanten Fluchtmanövern, sondern ganz offen - die Mauer fällt, die innerdeutsche Teilung ist bald Geschichte. Einige derjenigen, welche die DDR als ihre Staatsbürger hautnah erlebten, sind mittlerweile auch im Landkreis Dachau zu Hause. 30 Jahre nach dem Mauerfall erinnern sie sich an die damalige Zeit.

Einer von ihnen ist Gerd Schott. Seine Flucht aus der DDR war eigentlich keine solche, sondern vielmehr eine schlichte Ausreise. Als der Thüringer 1961 zum ersten Mal nach Westberlin fuhr - vor dem Mauerbau konnte man einfach mit der Straßenbahn in die Bundesrepublik fahren - beschloss er spontan, einfach dort zu bleiben. Sein Vater war ranghohes Parteimitglied, weshalb Gerd Schott das Glück hatte, auch später, als die Grenze streng bewacht und die Ein- und Ausreise genau kontrolliert wurde, problemlos mehrmals jährlich in die DDR reisen zu können. Seine Arbeit als Bühnenmaler brachte ihn dann zunächst nach Stuttgart, Ende der Sechziger nahm er ein Angebot in München an. Der Liebe wegen verschlug es ihn schließlich in den Landkreis - seit fast 30 Jahren lebt er hier.

Die Bahn als Fluchthelfer - davon kann Andreas Kreutzkam erzählen. Vielen in Dachau mag sein Name ein Begriff sein, immerhin war Kreutzkam unter anderem drei Jahrzehnte lang Geschäftsführer des Dachauer Forums und ist noch heute als Künstler in der Künstlervereinigung Dachau aktiv. Kreutzkams Geschichte beginnt im sächsischen Görlitz. Als gläubiger Katholik haben er und seine Familie es nicht leicht, im Alter von nur 18 Jahren verlässt Kreutzkam deshalb seine Familie gen Westen. Mit nichts als dem Anzug am Leibe, einer Aktentasche, einem Fotoapparat und seinem Waschbeutel fährt er am 22. Juli 1961 nach Westberlin - nur drei Wochen später wird die Mauer gebaut werden. So genau weiß er das, weil er den alten Fahrschein aufbewahrt hat. "Ich bin eben ein alter Sammler", sagt er und schmunzelt beim Blättern durch seine Erinnerungsstücke. Auch ein Brief an die Mutter über seine Ausreise ist dabei. "Wir mussten ja vortäuschen, dass zu Hause niemand etwas wusste, um die Familie zu schützen", erklärt Kreutzkam. Dass die Staatssicherheit trotzdem plante, eine Abhöranlage in der Werkstatt seines Vaters zu installieren, erfuhr Kreutzkam erst viel später, als er Einsicht in die Akten nahm.

Selbiges tat auch Bernd Rath, allerdings eher unfreiwillig. Schon als er noch in der DDR lebte, wusste er, dass er bespitzelt wurde. "Als Bauleiter für Lebensmittelfabriken war ich in der ganzen DDR unterwegs, auch in Grenzgebieten", erzählt Rath. Doch die Verantwortlichen hätten ihm nicht getraut und möglicherweise einen Spitzel in ihm vermutet. Mehrmals habe es Vorfälle gegeben, die darauf hindeuteten, etwa als die Stasi ihn aus dem Flugzeug holte, das Rath für eine Reise nach Montenegro betreten hatte. "Ich wollte das später aber alles gar nicht wissen, wer mich da bespitzelt hat und was die alles wussten." Doch das blieb ihm nicht erspart: Nach seiner Flucht wurde sämtlicher Besitz konfisziert, unter anderem wichtige Unterlagen wie etwa Rentenbescheide. Nach der Wende stellte er also einen Antrag auf Einsicht in die Akten. "Als ich dann in das Büro kam, war da ein riesiger Schreibtisch, auf dem sich die Papierberge so hoch türmten", erzählt Rath und bewegt seine Hand dabei eine Armlänge über der Tischkante. "Da gab es Meldungen über beinahe jede Bewegung, die ich gemacht habe."

Viel abgewinnen konnte Rath der DDR sowieso noch nie. Schon in der Jugend habe er das System gehasst, etwa weil er kein Abitur machen durfte, offener Gegner des Regimes sei er jedoch nie gewesen. Die Flucht war nur eine Frage der Zeit. Mit Hilfe seines Bruders, der bereits in der Bundesrepublik lebte, und einer Fluchthilfeorganisation wurde schließlich ein Plan geschmiedet. Doch dabei war höchste Vorsicht geboten, nicht einmal Rath selbst wusste genau, was passieren würde. Schließlich sollte er in eine Gaststätte kommen und sich an den Tisch setzen, auf dem eine Streichholzschachtel aufrecht stand. Dann folgte er einem völlig Unbekannten zur Toilette, im Gehen erhielt er knappe Anweisungen über das weitere Vorgehen. An einem Rastplatz der Transitstrecke zwischen der Bundesrepublik und Berlin, der nicht überwacht wurde, an dem das Halten deshalb aber auch nicht gestattet war, sollte Rath parken und ins Fahrzeug des Unbekannten einsteigen. Doch an besagtem Rastplatz stand ein Fahrzeug der Polizei: "Ein Fahrzeugwechsel wäre nicht möglich gewesen. Ich habe mein Auto darum in den Wald gefahren, abgestellt und bin durch den halben Wald gerannt", erzählt Rath. Im Fahren sei er in den Wagen gehechtet und dann in den Kofferraum gekrochen. "Die Erinnerung ist noch so deutlich, das könnte man verfilmen", sagt Rath.

Die Anfangszeit in der Bundesrepublik - Rath zog zunächst zu seinem Bruder nach München, fand schnell eine Arbeitsstelle und blieb - bezeichnet der Karlsfelder als "Riesenkulturschock". "Ich hatte schon ein bisschen Welterfahrung, war in allen großen Städten der DDR - aber dort war es nachts dunkel. Und dann kam ich nach München und alles hat geglitzert und geblinkt." Auch das Angebot in den Geschäften habe ihn überwältigt, er habe sich dann aber rasch eingewöhnt.

Andreas Kreutzkams Start war ebenfalls ein schwerer. Zwar konnte er in Hannover schnell mit einer Ausbildung bei der Post beginnen und fand auch ein Zimmer - das war allerdings ungeheizt. "Da habe ich wohl eines Tages versehentlich mein Abiturzeugnis mit verheizt", erinnert sich Kreutzkam und lacht. Doch nicht nur das: Auch der Umgang mit Krankenversicherung und ähnlichem war für Kreutzkam damals neu. Plötzlich sei man Kunde gewesen und habe die Wahl zwischen verschieden Möglichkeiten gehabt - was auch anstrengend sein konnte. Seine Erfahrungen konnte Kreutzkam aber nach der Wende immerhin an diejenigen weitergeben, die dann nach Westdeutschland kamen.

Zuvor beschränkte sich der Austausch auf ein paar Besuche und Pakete: "Wir bekamen Wunschlisten aus dem Osten, da stand zum Beispiel immer Persil drauf." Doch der Kontakt hielt, wie Kreutzkam mit einer Anekdote beweist: "Früher haben wir immer gesagt, wenn wir mal in Rente sind, dann machen wir ein Klassentreffen im Westen. Und 2006 waren wir dann wirklich in Bergkirchen." Auch als die Mauer fiel, war das in Kreutzkams Wahlheimatgemeinde zu spüren: Jemand sei beispielsweise mit einem ganzen Auto voller Bananen in Richtung der innerdeutschen Grenze gefahren.

Die Banane wird auch heute noch vielfach als Symbol für die Mangelwirtschaft der DDR herangezogen. Dabei findet Gerd Schott: "Wenn man mich fragen würde, wie viele Bananen ich heute esse, wären es im Vergleich zu damals vermutlich auch nicht mehr." Das oft vernommene "Früher war nicht alles schlecht", hört man auch aus seinem Mund, auch wenn er damals froh war, die Enge der DDR und der dortigen Möglichkeiten zu verlassen. Nach der Wende hätten die Verantwortlichen in der Bundesrepublik aber auch viele Fehler gemacht, da sie in der DDR gut funktionierende Strukturen nicht übernahmen. "Wir könnten heute zum Beispiel in sozialen Belangen schon viel weiter sein", sagt Schott.

"Es war aber sicher auch nicht alles besser", stellt hingegen Andreas Kreutzkam nüchtern fest. Es sei schizophren, wenn man nicht sagen dürfe, was man wolle und seinen Glauben nicht leben dürfe. Bernd Rath ist ähnlicher Meinung: "Es ist uns ja nicht dreckig gegangen. Man musste nur eben Augen und Ohren zumachen." Die aktuelle Unzufriedenheit in den neuen Bundesländern, die sich etwa in den Wahlerfolgen der AfD zeigt, sieht er deshalb vor allem in Nostalgie begründet: "Wer damals mitgemacht hat, ist nicht schlecht gefahren und sehnt sich deshalb jetzt nach mehr Staat."

Für Rath ist Deutschland deshalb auch heute noch kein vereinigtes Land, noch immer gebe es zu viele Probleme. Und selbst in seinem Kopf sei die ehemalige Grenze noch nicht verschwunden, "innerlich ist sie bei mir heute noch da". Die "ewige Ossi versus Wessi-Diskussion" lehnt er aber trotzdem ab. Stattdessen fordert er, zwischen strukturstarken und abgehängten Regionen zu unterscheiden - die gebe es nämlich auch in den alten Bundesländern zur Genüge.

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Quelle:
SZ vom 09.11.2019
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