Diskussion über Heimat:Den alten Werten neue hinzufügen

Diskussion über Heimat: "Heimat ist heute mehr ein Prozess als ein Ort", erklärt Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler den etwa 50 Zuhörern im Thoma-Haus.

"Heimat ist heute mehr ein Prozess als ein Ort", erklärt Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler den etwa 50 Zuhörern im Thoma-Haus.

(Foto: Toni Heigl)

Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler beleuchtet, wie sich der Heimatbegriff durch die Zeiten immer wieder gewandelt hat

Von Dorothea Friedrich, Dachau

Heimat, Multikulti, Leitkultur. Drei Begriffe, die emotional besetzt sind und ziemlich provozieren können, je nachdem, wer sie wie und in welchem Zusammenhang verwendet. Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler sprach kürzlich auf Einladung des Dachauer Forums und des Runden Tischs gegen Rassismus im Ludwig-Thoma-Haus vor etwa 50 Zuhörern über "Zukunft Heimat - von Multikulti bis Leitkultur". Mitgebracht hatte er ein von ihm herausgegebenes Bändchen "Heimat und Vernunft" mit drei Aufsätzen zur Heimatpflege in Oberbayern.

"Einen Heimatabend der anderen Art" hatte Göttler versprochen. "Heimatpflege hat eine Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft", sagte er, und habe die Aufgabe, "den überkommenen Werten neue hinzuzufügen". Zu denen gehören Göttler zufolge "Multikulti und Leitkultur" gewiss nicht mehr, weil die ursprünglich aus der Soziologie und Politikwissenschaften stammenden Begriffe "so missbraucht worden sind, dass wir beide nicht mehr verwenden sollten" - Stichwort: deutsche und / oder bayerische Leitkultur.

Umso gründlicher ging Göttler der Heimatfrage nach. Hat diese doch viel mit Migration und Integration zu tun - und das nicht erst seit ein paar Jahren. Dazu sagte Peter Heller vom Runden Tisch gegen Rassismus: "Ein Viertel unserer Bevölkerung hat Migrationshintergrund und eigene Migrationserfahrungen. Migration und Integration haben schon immer zu unserer Gesellschaft gehört und machen sie reicher".

Wer allerdings bereits im 19. Jahrhundert - wie beispielsweise die ersten Siedler in Karlsfeld - eine neue Heimat suchte und fand, sah sich "einer knallharten Rechtslage" gegenüber, wie Göttler sagte: "Heimat hatte der, der Geld hatte, um sich dieses Recht zu kaufen." Ohne Heimatrecht sei nicht einmal eine Heirat möglich gewesen, ganz abgesehen von der sozialen Absicherung seitens der Gemeinde. Mit der massenhaften Migration des ländlichen Proletariats, bedingt durch Überbevölkerung und wirtschaftliche Not, entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein "emotionales Heimatgefühl", Heimweh. Das wurde auch Schweizerkrankheit genannt - und erhielt sogar einen wissenschaftlichen Namen: morbus helveticus. Und heute? Heute sei "Heimat mehr ein Prozess als ein Ort", sagte Göttler, weshalb er von Heimaten spreche, auch wenn der Begriff grammatikalisch nicht existiere. Für ihn sind "Netzwerke, Szenen, scientific communities" ebenfalls Heimatorte, jenseits der topografischen Definition: "Wenn ich vierhundert Mal am Tag in den sozialen Medien unterwegs bin, ist das auch eine Heimatsuche" Ein "utopischer Heimatbegriff", also, der im krassen Widerspruch zur gängigen Definition steht? Diese impliziere "etwas Statisches", so Göttler. Doch es gelte, "die Würde des kleinen Raums wieder zu sehen, in dem man etwas verändern kann".

Notwendig sei, "sich offensiv Gedanken zu machen, wie eine Tradition entsteht" und sich philosophisch damit auseinanderzusetzen, was dazugehört". Heimat sei inzwischen "immer mehr auch die Heimat des anderen, die es gemeinsam zu gestalten gilt". Dadurch würden "manche liebgewonnenen Gewohnheiten aller gesellschaftlichen Gruppen und Kulturen fragwürdig und mancher Kompromiss nötig".

Wie aber mit dem rechtsradikalen Heimatbegriff umgehen? Die Diskussion suchen oder sie verweigern? Das beschäftigte etliche Zuhörer. Göttler zog eine klare Linie: Angriffe auf das Grundgesetz setzten die Grenzen des Gesprächs. Schließlich habe "Heimat auch eine ethische Verantwortung, die für den anderen".

"Heimat und Vernunft" enthält neben Göttlers Beitrag "Wertewandel in der Demokratie" von Kea-Sophie Stieber und "Die Wiederkehr der Nashörner - Vernunft in fanatischer Zeit" von Gert Heidenreich.

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