Süddeutsche Zeitung

Die 50er-Jahre in Sulzemoos:Mit der Isetta in die Zukunft

Die Ausstellung "Wirtschaftswunder und Verdrängung" beleuchtet Aufbruch und Alltag in der BRD der Fünfziger Jahre, aber auch die Kehrseite: Die Leugnung der Nazivergangenheit

Von Helmut Zeller, Sulzemoos

Toast Hawaii und Nierentisch, Pettycoat und Nylons, Käfer und Italienurlaub, Jazz und Rock'n Roll - das sind einige Attribute einer hoffnungsvollen Epoche in der noch jungen Bonner Republik, die Fünfziger Jahre, die als "Wirtschaftswunder" in die Geschichte eingegangen sind. Aber es gab auch eine Kehrseite: In ihrem Zukunftsoptimismus blendeten die Deutschen ihre nationalsozialistische Vergangenheit und den Holocaust aus - mit Folgen, die bis in die Gegenwart des inzwischen "wiedervereinigten" Deutschlands reichen. "Die 50er Jahre im Landkreis Dachau - Wirtschaftswunder und Verdrängung" heißt eine Ausstellung der Geschichtswerkstatt, die jetzt in Sulzemoos gezeigt wird und diese beiden Seiten beleuchtet.

Einer Studie der amerikanischen Militärregierung von 1947 kam zu dem Schluss, dass führende Vertreter von Politik, Erziehung und Kirchen allenfalls zögerlich, wenn überhaupt den Massenmord an den Juden ansprachen. Einer Umfrage zufolge gaben sich 40 Prozent als Antisemiten aus, 20 Prozent als Rassisten und 19 Prozent als Nationalsozialisten. Nur 20 Prozent der Bevölkerung waren weitgehend frei von diesen Ressentiments. Bis weit in die Fünfziger Jahre hinein - und bis in die heutige Zeit - gab es antisemitische Wellen, und die jüdischen Überlebenden waren und sind mit dem Fortleben antijüdischer Überzeugungen konfrontiert. In der ersten Regierungserklärung nach der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 sprach Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) den Massenmord an den europäischen Juden mit keinem Wort konkret an. Die Entnazifizierung war zu einer Farce verkommen - personelle Kontinuitäten in allen gesellschaftlichen Bereichen mit dem "Dritten Reich" wurden nicht unterbrochen.

Das hatte Auswirkungen auf die Opfer. Für das erlittene Leid der ehemaligen Häftlinge der Konzentrationslager interessierte sich kaum jemand. Auch deshalb schwiegen die Davongekommenen - und weil sie für das unvergleichbare Verbrechen der Judenvernichtung keine Worte fanden. Der Auschwitz-Überlebende Max Mannheimer, Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees, der 2016 verstorben ist, erzählte: "Was hinter mir lag, versuchte ich zu verdrängen. Nur meine Träume holten mich immer wieder ein." Aus dieser Perspektive kommen die Ausstellungsmacher zu einem differenzierten Blick auf die Jahre des Aufbruchs. Man stürzte sich tatkräftig in die Zukunft - und ließ die Vergangenheit hinter sich.

Leugnung und Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit zeigt die Ausstellung an drei Beispielen: Die Stadt Dachau ignorierte die Forderung der ehemaligen Häftlinge, aus dem ehemaligen Konzentrationslager eine Gedenkstätte zu machen. Sogar eine kleine Ausstellung der ehemaligen Häftlinge im Krematorium wurde geräumt. Eine andere Art der Verdrängung zeigt eine Landkreiskarte, die in Schulen für den Heimatunterricht verwendet wurde. Dort wird Dachau als idyllische Häuseransammlung dargestellt, das Lager mit fast 2000 Bewohnern, Vertriebene nach Kriegsende, wurde nicht mal angedeutet. Das Verschweigen der deutschen Verbrechen bewirkte einen unreflektierten Umgang damit. In einem Faschingszug 1959 fuhr ein offener Mercedes mit Hakenkreuz-Wimpeln, einem Hitler-Darsteller und SS-Uniformierten durch den ganzen Landkreis. In der Reaktion darauf spiegelt sich der damalige Zeitgeist wider. Der Faschingswagen löste keinen Protest aus, sondern allgemeine Heiterkeit.

Die Wanderausstellung wurde im Februar 2018 in der Sparkasse Dachau eröffnet. Nach mehreren Stationen im Landkreis ist sie nun in Sulzemoos zu sehen. Wer die Ausstellung bisher verpasst hat, kann sie sich im Sulzemooser Rathaus ansehen oder in den nachfolgenden Orten Schwabhausen, Erdweg und Altomünster. Bei jeder Station wird die Ausstellung mit Gegenständen und Fotos aus der eigenen Gemeinde ergänzt.

Hinter all den Objekten steht eine Geschichte. Einen großen abgeschabten Teddybär hatten Hamsterer aus München in der Nachkriegszeit gegen Lebensmittel getauscht. In den Fünfziger Jahren war er das Lieblingsspielzeug eines kleinen Mädchens in Sulzemoos. Die Ausstellung erzählt vom bescheidenen Reichtum auf dem Land. "Wohlstand für alle", wie es der Wirtschaftsminister Ludwig Erhard verkündete, blieb für viele ein Traum. Ein Fernseher, eine Wäscheschleuder, ein Badezimmer im Haus statt eines Plumpsklos im Hof oder eine neue Küche waren erreichbare Wünsche, auf die man sparte.

Einiges davon ist in der Ausstellung zu sehen, auch das ersehnte Auto, eine Isetta. Eine Reise nach Italien konnten sich nur wenige leisten. Meistens begnügte man sich mit einem Ausflug in die Berge oder mit Besuchen. In Sulzemoos fuhr man aufgrund der Autobahnnähe per Anhalter zu Verwandten. Die Erinnerung einer Zeitzeugin, die als Kind mit ihrer Schwester und ihrer Tante in einem Amischlitten mitfuhr und bei einer amerikanischen Raststätte ihren ersten Hamburger bekam, ist an einer Hörstation zu hören. Zu einem neuen Selbstbewusstsein gelangten die Deutschen dann durch das "Wunder von Bern", dass die Bundesrepublik 1954 zum Fußballweltmeister machte. 1958 wurde der Rock 'n Roll-Sänger Elvis Presley mit einem großen Medienrummel empfangen. Der Rock'n'Roll wurde zum Soundtrack eines neuen Lebensgefühls - und zu diesem Lebensgefühl gehörten auch Straßenschlachten mit der Polizei. Allein zwischen 1956 und 1958 kam es zu 350 größeren Ausschreitungen in fast allen westdeutschen Großstädten. Darüber empörten sich die Biedermänner ungemein - in dem Sinne, dass es so etwas in der guten alten Zeit nicht gegeben habe.

In München war schon 1948 das Ballett "Abraxas" von Werner Egk insbesondere in kirchlichen Kreisen als anstößig empfunden worden. Kultusminister Alois Hundhammer (CSU) ließ das Stück absetzen. Nach zwölf Jahren Hitlerdiktatur hatte man eben noch so seine Schwierigkeiten mit der Freiheit der Kunst. Die Debatte illustriert das Spannungsverhältnis von konservativ-kirchlichen und liberalen Kreisen sowie staatlicher Einflussnahme auf die künstlerische und publizistische Freiheit. Die Ausstellung gibt einen Eindruck vom Leben in der restaurativen Adenauer-Epoche - Aufbruch, aber auch "Mief von 1000 Jahren unter den Talaren", wie in den Sechziger Jahren Studenten skandieren sollten, die das Schweigen der Väter und Großväter aufbrechen wollten, dann aber selbst auf Abwege gerieten. Die Alliierten hatten nach dem Krieg den Umgang mit dem Antisemitismus als Prüfstein für die demokratische Entwicklung der Deutschen gesetzt. Das wurde im Kalten Krieg so streng aber nicht mehr gesehen.

Eröffnung am Freitag, 3. Mai, um 19 Uhr im Rathaus Sulzemoos, Kirchstraße 3. Ausstellungsdauer bis zum 19. Mai. Begleitveranstaltungen: Samstag, 4. Mai, 19 Uhr: Lesung von Annegret Braun: Die 50er Jahre in Sulzemoos (im Rathaus); Freitag, 10. Mai, 19 Uhr: Vortrag von Wilhelm Liebhart: "Wirtschaftswunder und sonst nichts? Die 1950er Jahre heute" (im Rathaus); Sonntag, 12. Mai, 15 Uhr, zum Muttertag: Führung mit dem Thema: Mütter in den 50er Jahren; Freitag, 17. Mai, 15 Uhr, Erzählcafé mit Zeitzeugen im Schloss Sulzemoos. Ausstellungsführungen auf Anfrage bei Annegret Braun: 08135/938854 oder annegret_braun@t-online.de.

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Quelle:
SZ vom 02.05.2019
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