Süddeutsche Zeitung

Dichter in Dachau:Der widerborstige Zögling

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Michael Groißmeier, Dachaus wohl bedeutendster lebender Literat, feiert seinen 85. Geburtstag

Von Gregor Schiegl, Dachau

Michael Groißmeier hat in die Welt geschaut. Ihre Schönheit, die sich oft in kleinen Dingen zeigt, die Regentropfen, die an einem Ast glitzern - "keiner zu viel / keiner zuwenig, / so scheint es", schreibt er in seinem Gedicht "Nach dem Regen". Aber schon früh hat er auch die Schrecknisse gesehen, die der Mensch in diese Welt trägt. Groißmeier war zehn Jahre alt, als er beobachtete, wie Bauern mit ihren Heuwagen die Leichen der verstorbenen KZ-Häftlinge auf den Friedhof abtransportierten. Der Eindruck hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt, unauslöschlich. "In jenen Tagen, da mir das Entsetzen über die nazistische Barbarei vorzeitig die Kinderaugen öffnete, mag mein Hang zur Widerborstigkeit, ja, zum Widerstand gegen jeglichen Zwang (...) gefestigt worden sein", sagte er in einem BR-Beitrag vor 25 Jahren.

Erst vor wenigen Wochen erschien sein neuer Band "Der Mensch, das dunkle Tier". Zwei weitere Gedichtmanuskripte liegen in der Schublade. An diesem Freitag wird er aber wohl nicht viel zum Schreiben kommen, denn er muss Hände schütteln. Michael Groißmeier, der wohl bedeutendste lebende Dachauer Literat, feiert an diesem Freitag seinen 85. Geburtstag.

Michael Groißmeier wurde am 21. Februar 1935 in München geboren. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, oder um es mit Dachauer Standesbewusstsein zu formulieren: "Er entstammt einem alten Etzenhauser Bauerngeschlecht." In Etzenhausen hat Groißmeier den Großteil seines Leben verbracht, noch heute ist der Stadtteil ein beschaulicher Flecken mit dörflicher Idylle. Die Welt zwischen Apfelbäumen, Feldfluren und Auen ist überschaubar und dennoch grenzenlos. Hier spannt sich das lyrische Universum auf, aus dem Groißmeier seit mehr als 50 Jahren schöpft. Die Wirkmächte der Natur, das Werden und Vergehen, das Erschaffen und Zerstören, ja, wenn man so will, sogar das Göttliche - hier lässt es sich studieren, das Große im Kleinen und das Kleine im Großen, geschickt in Silben gemeißelt und zu kunstvollen Reimen arrangiert.

Ein Dachauer Poet, das klingt nach etwas, das es gar nicht mehr geben kann. Hieß es nicht in Theodor W. Adornos Aufsatz "Kulturkritik und Gesellschaft", dass es "barbarisch" sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben? Dieser Satz wurde viel diskutiert - mit unterschiedlichen, aber zunehmend paradoxen Resultaten. In Dachau herrschte lange Zeit ein kollektives Schweigen: Niemand hatte etwas hören wollen, niemand hatte etwas sehen wollen - also schwieg man, als wäre nichts geschehen. Nicht so Groißmeier, der als Kind den Rauch "aus brennenden Leibern" gesehen hat, wie er es mit erschütternder Nüchternheit zu Papier gebracht hat. Georg Trakl und Gottfried Benn, Georg von der Vring und Georg Britting, das sind literarische Vorbilder, die er immer wieder nennt, und nicht zu vergessen Heinz Piontek.

Auf Wunsch der Mutter und des Dachauer Stadtpfarrers Pfanzelt kam Michael Groißmeier ins Erzbischöfliche Knabenseminar in Freising. In seinem einzigen Roman, dem autobiografischen Buch "Der Zögling", schildert er das Leben im Internat, den kalten Drill, der sich ganz allein auf die Priesterausbildung fokussiert und alle Wünsche und Bedürfnisse eines jungen Menschen ignoriert. Das 2001 erschienene Buch erregte viel Aufsehen. Die Geistlichkeit kam bei Groißmeier nicht gut weg.

Um seinem Zöglingsdasein zu entfliehen, erschuf er sich eine phantastische Parallelwelt. Er dichtete und brachte sich selbst das Geigenspiel bei. Dieser inneren Flucht folgte die äußere. Er kehrte Freising den Rücken und ging zurück nach Dachau. Der hochbegabte Geigenspieler entschied sich für die Beamtenlaufbahn und wurde Leiter des Sozialamts des Landkreises Dachau. Dieser Beruf sicherte ihm die materielle Grundlage für sein literarisches Wirken. Das reicht weit über Dachau und Bayern hinaus. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt, sogar ins Ungarische und Japanische. Letzteres ist keine Überraschung, denn in der japanischen Haiku-Dichtung zählt Groißmeier zu den kompetentesten Literaten in ganz Europa.

Allein der Dichtkunst hat sich Groißmeier schließlich untertan gemacht. "Ihrem sanften, süßen Zwang, beuge ich mich mit Freude", sagte er einmal. "Es ist der einzige, den ich annehme, ohne Zähneknirschen, ohne Reue."

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Quelle:
SZ vom 21.02.2020
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