Der Familiengeschichte in Indersdorf auf der Spur:Magische Momente

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Beth Lane aus Los Angeles dreht auf den Spuren ihrer Familie einen Film. Im Kloster Indersdorf hatte 1946 ihre Mutter als kleines Mädchen auf die Ausreise in die USA gewartet. Jetzt begegnet die Tochter der 95-jährigen Ordenschwester Borromäa

Von Hans Holzhaider

Schwester Borromäa ziert sich nicht lange. Sie ist jetzt 95 Jahre alt, eine kleine, zierliche Person, etwas gehandicapt, weil sie sich vor nicht langer Zeit die Schulter gebrochen hat. Aber sie stellt sich ohne zu zögern an den großen Flügel im Barocksaal des Klosters Indersdorf, ein paar versuchsweise Griffe in die Tasten, ein kleines Vorspiel, dann singt sie, mit zarter, aber noch immer fester Stimme:

Guten Abend, gute Nacht!

Mit Rosen bedacht,

Mit Näglein besteckt

Schlupf unter die Deck.

Morgen früh, wenn Gott will,

Wirst du wieder geweckt,

Morgen früh, wenn Gott will,

Wirst du wieder geweckt.

Es ist mäuschenstill im Saal, ein magischer Augenblick, manche der Zuhörer haben Tränen in den Augen. Dann geht Beth Lane, 56, auf Schwester Borromäa zu, nimmt ihre Hand, und sagt: "Ich weiß, sie waren nicht hier, als meine Mutter hier war. Aber jetzt kann ich mir vorstellen, wie es klang, als eine der Schwestern damals meine Mutter, die sechs Jahre alt war, in den Schlaf gesungen hat." Beth Lane sagt es auf Englisch, aber niemand muss übersetzen. Schwester Borromäa hat 50 Jahre lang an der Klosterrealschule in Indersdorf Englisch unterrichtet.

Beth Lane, Schauspielerin, Autorin und jetzt auch Filmemacherin und Regisseurin aus Los Angeles, ist auf einer Reise kreuz und quer durch Deutschland - von Berlin nach Worin, einem kleinen Dorf in Brandenburg, nach Bremerhaven, nach Paderborn, Dortmund, und jetzt nach Markt Indersdorf und München. Es ist eine Reise auf den Spuren ihrer Familie. Ihre Mutter, Ginger Lane, war das jüngste von sieben Geschwistern, die im Frühjahr 1946 im Kloster Indersdorf auf die Ausreise in die USA warteten.

Filmaufnahmen mit Schwester Borromäa. Im Barocksaal des Klosters Indersdorf spielt sie ein Schlaflied. So hatten es die Kinder, Holocaust-Überlebende, in dem ehemaligen DP-Camp gehört. (Foto: Toni Heigl)

Wie es kam, dass Ginger, die damals Bela hieß, ihr Bruder Alfons und ihre Schwestern Judith, Renée, Gertrud, Ruth und Senta die Nazidiktatur überlebt hatten, ist eine Geschichte, die an ein Wunder grenzt. Die sieben Geschwister lebten mit ihren Eltern Pauline und Alexander Weber in Berlin. Pauline Weber, geborene Banda, war die Tochter eines jüdischen Kantors in Ungarn. Alexander Weber war der Sohn einer Schirmmacherfamilie aus Paderborn. Aus Liebe zu Pauline trat er zum jüdischen Glauben über, und wurde dafür von seiner katholischen Familie verstoßen. 1943 wurde Pauline Weber von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie Anfang Dezember 1943 starb. Der Vater und die sieben Kinder blieben zurück, aber Alexander Weber wusste: Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch seine Kinder das gleiche Schicksal wie ihre Mutter erleiden würden. In dieser verzweifelten Situation kam Rettung durch Arthur Schmidt, einem Gemüsebauern aus dem Dorf Worin, etwa 60 Kilometer östlich von Berlin. Er nahm die sieben Kinder mit auf seine kleine Gemüsefarm, und dort versteckten er und seine Ehefrau Paula die Geschwister bis kurz vor Kriegsende.

Erst als die Sowjetarmee schon an der Oder stand, holte Alexander Weber seine Kinder wieder ins zerstörte Berlin. Eine jüdische Hilfsorganisation bot an, die Kinder bei Pflegefamilien in den USA unterzubringen. Aber der Weg in die USA stand nur Waisenkindern offen. Schweren Herzens ließ sich Alexander Weber als Vater verleugnen, und die Kinder kamen in die Obhut der UNRRA, der United Nations Relief and Rehabilitation Administration. Auf einigen Umwegen landeten sie so im April 1946 im Kloster Indersdorf, wo die UNRRA ein Lager für so genannte DPs, Displaced Persons betrieb.

In Indersdorf wurden die Kinder und Jugendlichen, viele von ihnen aus Konzentrationslagern befreit, von einem internationalen Team von Freiwilligen der UNRRA betreut, unterstützt von den Ordensfrauen des Konvents der Barmherzigen Schwestern des heiligen Vinzenz von Paul, die im Juli 1945 in das Kloster zurückkehrten, aus dem sie 1938 von den Nazis vertrieben worden waren. Die Oberin, Schwester Dolorosa, erinnerte sich gut an die sieben Geschwister: "Das jüngste Mädchen war sechs Jahre alt und hatte die Größe eines dreijährigen Kindes", schrieb sie später. "Die übrigen, 7, 9, 12, 14, 17 und 19 Jahre alt, waren auch sehr unterernährt und hatten viel durchgemacht. Die 14-Jährige hatte hauptsächlich ihre kleinen Geschwister betreut, weil die Älteste, ein sehr trübsinnig veranlagtes Menschenkind, allzeit mit Selbstmordgedanken umging. Dagegen war der 17-jährige Junge ein großer Taugenichts." Schwester Dolorosa hätte sich sicher gewundert, wenn sie erfahren hätte, dass aus dem "Taugenichts" später ein bekannter Professor für Molekularphysik wurde.

Die Filmemacherin Beth Lane, deren Mutter Ginger nach dem Krieg im DP-Camp im Kloster Indersdorf untergebracht war, und Schwester Borromäa. (Foto: Toni Heigl)

Am 10. April 1946 bestiegen sie sieben Geschwister in Bremerhaven den US-Truppentransporter Marine Flasher; zehn Tage später betraten sie in New York amerikanischen Boden. Bis auf Alfons, den Ältesten, der 2016 starb, leben alle noch. Im Frühjahr 2018 wurden Arthur und Paula Schmidt, die den Weber-Kindern das Leben gerettet hatten, von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" geehrt.

Im September 2018 berichtete die Süddeutsche Zeitung ausführlich über die Geschichte der sieben jüdischen Kinder, die auf so wunderbare Weise gerettet wurden. Für die Indersdorfer Lehrerin Anna Andlauer war das eine Riesenüberraschung. Sie erforscht schon seit Jahren die Geschichte des DP-Lagers im Kloster Indersdorf, sie hat ein Buch darüber geschrieben und Treffen von ehemaligen Insassen organisiert. Nach den sieben Geschwistern, von denen die Oberin, Schwester Dolorosa berichtet hatte, hatte sie lange vergeblich geforscht. Jetzt konnte sie Kontakt zu Ginger Lane, ehemals Bela Weber, in Chicago aufnehmen und sie einladen.

Zunächst aber kam jetzt die Tochter Beth mit einem Kamerateam. Sie will einen Film drehen, der davon handelt, wie Menschen sich an wichtigen Stationen ihres Lebens entscheiden - helfen, auch wenn es das eigene Leben in Gefahr bringt, oder wegschauen? Sie hört, wie Schwester Borromäa das Schlaflied singt, das damals vielleicht auch für ihre Mutter gesungen wurde. Sie sitzt mit Anna Andlauer im Barocksaal des Klosters an einem der Tische, an denen damals auch die jüdischen Kinder saßen und sich endlich sattessen konnten. Und jedem, mit dem sie auf dieser Deutschlandreise spricht, stellt Beth Lane irgendwann die Frage: "Würden Sie mich verstecken?"

© SZ vom 28.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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