Noch ist es gut eine halbe Stunde bis zum Beginn der Kundgebung auf dem Ernst-Reuter-Platz in Dachau-Ost. Die Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt. „Demokratie braucht Vielfalt“ lautet das Motto der Veranstaltung, zu der der Runde Tisch gegen Rassismus Dachau und das Demokratiebündnis Dachauer Land aufgerufen haben. Noch haben sich nur wenige Menschen, warm eingepackt mit Schals, Mützen und Handschuhen, auf dem Platz eingefunden. Benannt ist dieser nach dem Berliner Nachkriegsbürgermeister, der 1933 im Reichstag gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte, zweimal in KZs gesperrt wurde und dann ins Exil flüchten konnte.
Manche zweifeln, dass wegen der Ereignisse im Bundestag, als CDU/CSU und FDP gemeinsam mit der AfD für verschärfte Migrationsgesetze stimmten, wieder 4000 Personen kommen werden wie vor einem Jahr, als gegen Remigrationspläne der Rechten demonstriert wurde. Doch je näher der Kundgebungsbeginn rückt, desto dichter strömen Frauen, Männer und Kinder auf den Platz. Als bereits die ersten Reden gehalten werden, drängen weitere Teilnehmer die Menschenmenge immer mehr zusammen. Von 5000 Personen werden die Veranstalter schließlich sprechen und damit von der größten Demonstration, die es in Dachau je gegeben habe.
Die Vielfalt, von der im Titel die Rede ist, zeigt sich auch im Programm: Nicht weniger als zwölf Reden von Vertretern unterschiedlichster Gruppierungen und Einrichtungen sind angekündigt, dazwischen ein Demonstrationszug durch Dachau-Ost. Den Auftakt am Rednerpult macht Ursula Meier-Credner von den „Omas gegen Rechts“ aus München. Sie lobt die Erinnerungsarbeit, die in Dachau angesichts der KZ-Vergangenheit geleistet werde, und freut sich, dass gegen Rassismus und Antisemitismus nicht nur in der Großstadt demonstriert wird. Nach den Omas sind die Jungen dran: Philipp Caspari vom Jugendrat findet es „unfassbar toll, wie viele wir sind, die Zeichen setzen für Demokratie“. Er wünscht sich ein modernes, aufklärerisches Schulsystem, bei dem den Kindern kritisches Denken statt Auswendiglernen beigebracht werde.

Martin Modlinger von der Seebrücke Dachau, der auch für die Grünen im Dachauer Stadtrat sitzt, macht sich Sorgen, weil wegen eines schrecklichen Mordes alle Migranten bestraft werden sollen. Er betont angesichts der gemeinsamen Abstimmung von Union und AfD zu verschärften Migrationsgesetzen: „Eine Abkehr vom Anstand machen wir nicht mit.“ Er fordert, die Vielfalt zu verteidigen, und erklärt: „Auf Fragen von heute brauchen wir nicht die Antworten von 1933.“ Genauso sieht das auch Kerstin Schmid, Mutter eines behinderten Kinds, die für den Verein „Kunterbunte Inklusion“ spricht. Niemand sei gefeit, eine Behinderung zu haben. „Inklusion ist eine herausfordernde Realität, aber sie ist auch eine notwendige Maßnahme. Vielfalt zu schützen ist eine Lehre aus unserer Geschichte“, sagt sie in Hinblick auf die Euthanasiemorde der NS-Zeit.
Menschen mit Handicap spielen auch im nächsten Beitrag eine Rolle. Michaela Streich, Geschäftsführerin des Franziskuswerks Schönbrunn, zeigt sich betroffen von dem, was im Parlament passiert ist. In ihrer Einrichtung, dem größten Arbeitgeber des Landkreises, seien Menschen unterschiedlichster Herkunft und Religionen beschäftigt, 253 davon ohne deutschen Pass. In der Akademie würden Männer und Frauen aus 53 Ländern zu Pflegekräften ausgebildet, führt sie aus. Sie macht deutlich, dass ohne solche Diskussionen über Migrationsbegrenzung „unser Land deutlich attraktiver werden würde für Fachkräfte, die wir dringend brauchen“. Ehe die Menge loszieht, nennt Peter Heller, Kreisrat für das „Bündnis für Dachau“, als Sprecher des Runden Tischs gegen Rassismus seinen Verein als Beispiel für Vielfalt, der im Sommer sein zehnjähriges Bestehen feiern kann: „Vielfalt ist für unser Leben, unser Überleben wichtig, Homogenität verliert.“ Er zitiert dann, wohl in Anspielung auf Friedrich Merz, den ehemaligen Bundespräsidenten Walter Scheel: „Es kann nicht die Aufgabe eines Politikers sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun. Aufgabe der Politiker ist es, das Richtige zu tun und es populär zu machen.“

Entlang des Demonstrationsweges haben Zaungäste und Anwohner die Möglichkeit, einige – teilweise ironische – Sprüche auf Transparenten von Teilnehmern zu bestaunen: „1933 Gründe gegen Rechts“ etwa oder „Vorwärts statt rückmerz“. Sogar Latein war zu lesen: „Cave Ideas Mertias“ (Hüte sich vor den Ideen des Merz), und auch eine Lebenserfahrung: „Demokratie ist wie mein Mann – anstrengend, aber das Beste, was mir passieren konnte.“

Als sich der schier endlose Zug wieder auf dem Ernst-Reuter-Platz versammelt hat, ergreift Albert Winkler von der Soldaten- und Reservistengemeinschaft Schwabhausen das Wort. Er mahnt, „wachsam zu sein und zu warnen vor dem, was unsere Demokratie in Gefahr bringt“. Er fordert, aktiv gegen den AfD zu kämpfen, und ruft auf: „Gehen Sie bei der Wahl verantwortungsvoll mit Ihrer Stimme um.“ Kerstin Schwenke, Leiterin der Bildungsabteilung der KZ-Gedenkstätte, sei sich lange sicher gewesen, dass sich Geschichte nicht wiederhole. Doch mittlerweile zweifle sie daran. Demokratien können von innen heraus zerstört werden, das habe schon NS-Propagandachef Goebbels 1928 kundgetan, so Schwenke. Die NSDAP habe 13 Jahre gebraucht von ihrer Gründung bis zur Zerstörung der Demokratie, sagt Schwenke und warnt: „Ohne Demokratie und Rechtsstaat ist jeder ein potentielles Opfer.“ Björn Mensing, Pfarrer der Versöhnungskirche, erinnert an die Ansprache des 99 Jahre alten Holocaust-Überlebenden Leon Weintraub, die dieser am vergangenen Montag in Auschwitz-Birkenau gehalten hat. Es gelte die Fehler der 1930er-Jahre zu vermeiden und Ansichten entgegenzutreten, die zum Völkermord der Nationalsozialisten geführt hätten. Rassenideologie sei falsch, es gebe nur eine Menschenrasse: den Homo Sapiens.

Rassismus hat auch Osama Kezzo bisweilen gespürt, seit er 2016 aus Syrien nach Deutschland kam. „Dabei habe ich nicht nur das Meer überquert, sondern auch die Grenze zwischen Verzweiflung und Hoffnung“, erklärt der Sprecher des Migrations- und Integrationsbeirats im Landkreis. Viel mehr als Anfeindungen habe er jedoch nach seiner Ankunft im Dachauer Land Menschlichkeit erlebt, die er „das Herz der Demokratie“ nennt. Für ihn ist Asylrecht Menschenrecht, „es schützt nicht Statistiken, es schützt Leben.“ Einer jener, die Flüchtlingen seit Langem helfen, ist Peter Barth vom Helferkreis Hebertshausen. Als 2013 die ersten in seinem Wohnort angekommen seien, habe man sich mit Deutschkursen, bei Behördengängen und der Arbeitssuche um sie gekümmert: „Der Umgang war für alle eine Bereicherung“. Er übt aber heftige Kritik an der Politik: „Arbeitsverbot ist das Schlimmste, was man den Menschen antun kann.“ Dabei wollen, so Barth, alle Geflüchteten arbeiten, doch ein Spurwechsel sei nicht gewollt, obwohl man Arbeitskräfte genauso brauche wie eine Verjüngung der Gesellschaft.
„Vielfalt ist unsere Realität“, weiß Heidi Schaitl, Kreisgeschäftsführerin der Caritas Dachau. Ihre Einrichtung biete die unterschiedlichsten Angebote von Kindertagesstätten bis zu Pflegeheimen. Die Caritas habe Mitarbeiter aus mehr als 100 Nationen. „Gemeinsam verteidigen wir unsere Demokratie gegen die Angriffe der Rechten“, ruft sie unter Beifall der Zuhörer auf dem auch nach zweieinhalb Stunden in eisiger Kälte immer noch vollen Platz.