Süddeutsche Zeitung

Dachauer Verein Kunterbunte Inklusion:Kampf um den Klassenerhalt

Schulbegleiter helfen Kindern mit Behinderung, am gemeinsamen Unterricht teilzunehmen, doch in der Corona-Krise wurden viele von ihnen auf Kurzarbeit gesetzt. Der Dachauer Verein kämpft für eine bayernweite Lösung - und verzeichnet bereits erste Erfolge

Von Jacqueline Lang, Hebertshausen

Wie jede Krise, trifft auch die Corona-Krise jene am härtesten, die es auch im normalen Leben schon nicht leicht haben. Beispiele hierfür gibt es unzählige. Zu ihnen gehören auch die Schulbegleiter, die von einigen Trägern in Kurzarbeit geschickt wurden. Familien, die ein Kind mit einer Behinderung haben, können eine solche Begleitung bei ihrem jeweiligen Träger beantragen, damit das Kind im Schulalltag Unterstützung erhält. Mit Beginn der Krise machten die Schulen auch im Landkreis Dachau zu, zahlreiche Familien waren dazu gezwungen, ihre Kinder daheim zu beschulen - allerdings ohne Unterstützung, von gelegentlichen Videocalls einmal abgesehen. Der Dachauer Verein Kunterbunte Inklusion, den Eltern beeinträchtigter Kinder gegründet haben, schickte daraufhin Ende April einen Hilferuf an den Bezirk Oberbayern, um eine bayernweit einheitliche Lösung für das Problem zu erwirken.

In der Zwischenzeit ist einiges passiert. Tanja Pattis Sohn Valentino etwa hat nun seit gut drei Wochen endlich seine Betreuerin Ursula Gasparics wieder. Gasparics ist zwar nach wie vor in Kurzarbeit, aber wenigstens nicht mehr zu 100 Prozent. Für Patti ist das nicht nur als betroffene Mutter eine Erleichterung, sondern auch ein Erfolg für den Verein, dessen zweite Vorsitzende sie ist: Seit der Veröffentlichung des Briefes sind zahlreiche Stiftungen und Vereine an sie herangetreten und sogar der Bildungsausschuss des Bayerischen Landtags hat sich laut Patti schon mit dem Thema befasst. Die angestoßene Debatte, so hofft sie, könnte den "Grundstein für die Zukunft" legen.

Laut Julia Krill, Pressesprecherin der Malteser für den Bezirk München, ist Valentinos Schulbegleiterin aber nur eine von drei Sonderfällen bei den Maltesern. Alle anderen sind weiterhin in hundertprozentiger Kurzarbeit. Krill begründet das zum einen damit, dass die Begleiter nicht pädagogisch ausgebildet seien, eine Lehrkraft also ohnehin nicht ersetzen könnten. Zudem seien sie nicht aufsichtspflichtig, deshalb sei das versicherungsrechtlich schwierig, und natürlich wolle man auch für die Gesundheit der Mitarbeiter Sorge tragen; das sei in einem fremden Haushalt nicht ohne weiteres zu gewährleisten. Patti kennt diese Argumente, doch von solch pauschalen Einwänden hält sie nichts - immerhin gehe es um Menschen.

Aus den Erfahrungsberichten der betroffenen Eltern sprechen Wut und Verzweiflung

Marianne Nickl, die erste Vorsitzende des Vereins, musste genau wie Patti für eine Betreuung für ihren Sohn Moritz kämpfen. Ihr Träger, die Caritas, habe, so erzählt sie, die Schulbegleiter zwar nie in Kurzarbeit geschickt; nach Haus zu den Familien kommen durften sie aber lange auch nicht. "Mich haben die fast schikaniert, als ich den Antrag mehrmals gestellt habe", sagt Nickl. Und das, obwohl sich letztlich herausgestellt habe, dass ihr Sohn Anspruch auf eine Begleitung zuhause hat. Nickl stört das "defizitäre Denken", das dahinter stehe: Immer müsse man das Augenmerk auf das Negative lenken, um Hilfe zu bekommen, dabei sei ein Leben mit einem Kind mit einer Behinderung alles andere als eine Zumutung. Das eine schließe aber eben das andere nicht aus.

Irem Demirhan, Leiterin der Kontaktstelle für Menschen mit Behinderung der Caritas, sagt, es habe nur zwei Familien gegeben, die sich von sich aus gemeldet und Home-Schooling gefordert hätten. Vielen der insgesamt 92 Familien, die im Landkreis einen Schulbegleiter beanspruchen, sei das von sich aus zu heikel gewesen. Als Grund dafür, warum es so lange gedauert hat, bis dem Antrag von Familie Nickl nachgekommen worden ist, nennt Demirhan "anfangs unklare Rahmenbedingungen. Man habe zwischenzeitlich familienentlastende Dienste, etwa Spaziergänge im Freien, angeboten, doch das sei nicht in Anspruch genommen worden. Auch eine andere Begleitung als die Bezugsbegleitung hätten die Familien nicht in Betracht ziehen wollen. "Wir sind da anfangs leider nicht auf einen Nenner gekommen", so Demirhan. Für den Unmut einiger Eltern hat die Pädagogin zwar deshalb grundsätzlich Verständnis, weist aber die Vorwürfe entschieden zurück, nicht für die Familie dagewesen zu sein. Aktuell laufe eine erneute Bedarfsabfrage, um zu klären, welche Familien auch nun, da die Schulen zumindest teilweise geöffnet haben, weiter Home-Schooling wünschen, sagt Demirhan. Sie rechne damit, dass es dann deutlich mehr sein werden als die derzeitigen zwei.

Von den rund 30 Familien im gesamten Landkreis, die zur Austauschgruppe des Vereins gehören, hätten zahlreiche das Schuljahr schon jetzt für "gelaufen" erklärt, sagt Patti. Sie selbst denkt darüber nach, ihren Sohn nach den Pfingstferien wieder in die Schule zu schicken. Damit wird er aber zu einer Minderheit gehören. Weil jeder Fall anders ist und somit auch jede Familie anders abwägen muss, ist Patti froh, dass bislang niemand gezwungen wird, sein Kind wieder in die Schule zu schicken.

Umso wichtiger ist aber für alle, die sich gegen eine Rückkehr in die Schule entscheiden, die nötige Unterstützung zuhause. Denn nicht nur wird oft vergessen, dass die Kinder auf die Hilfe angewiesen sind, wenn Inklusion gelingen soll. Auch die pflegenden Angehörigen und was sie tagtäglich leisten, wird oft nicht bedacht. Durch die Corona-Krise werde das nur einmal mehr deutlich, kritisiert Patti, die sich zudem sorgt, die Inklusion könnte dadurch auf Dauer gefährdet werden. Denn schon jetzt arbeiten viele Schulbegleiter, die oft Quereinsteiger und nicht pädagogisch ausgebildet sind, für einen Mindestlohn und werden darüber hinaus teilweise auch nur bezahlt, wenn die Kinder in die Schule gehen. Die Gefahr, dass sie sich in der Krise umorientieren und dann nicht mehr zur Verfügung stehen ist also nicht ganz von der Hand zu weisen. Gleichzeitig können Kinder wie Pattis Sohn nicht ohne Begleitung auf eine Regelschule gehen. Das Valentino jemals wieder eine Förderschule besucht, ist für Patti trotz aller Widrigkeiten aber keine Option - und mit dieser Einstellung ist sie nicht alleine.

Für die Belange von Behinderten gilt immer die Devise: "Du musst alles selbst in die Hand nehmen."

In einem zweiten Brief, den der Verein nun veröffentlicht hat, haben Patti und Nickl deshalb nun anonym Erfahrungsberichte von betroffenen Familien veröffentlicht. Es ist Wut und Verzweiflung die aus den Berichten spricht. Um diese Gefühle in Handlung zu übersetzen, fordert der Verein Kunterbunte Inklusion deshalb unter anderem ein "proaktives Erfragen" von Hilfe bei den betroffenen Familien und kreatives, an den Bedarf angelehntes Gestalten von Unterstützung, aber auch Haushaltshilfen für Familien, die sich aufgrund der Gesundheitssituation besonders stark isolieren müssen oder regelmäßige Corona-Tests für Schulbegleiter sowie ausreichend Schutzausrüstung für alle Helfenden.

Belastbare Zahlen darüber, wie viele Kinder eine Schulbegleitung beantragt haben, gibt es für den Landkreis nach Angaben des Dachauer Jugendamts zwar keine, doch mehrere bundesweite Studien belegen, dass immer mehr Eltern eine integrative Beschulung ihrer Kinder wünschen und Unterstützung beantragen. Diese Einschätzung deckt sich auch mit den Erfahrungen, die Tanja Patti gemacht hat. Sie weiß, dass viele Eltern alleine nicht die Kraft und Energie haben, allein für die Inklusion ihrer Kinder zu kämpfen - denn ein Kampf ist es auch im Jahr 2020 noch fast immer. Mit der Unterstützung des Vereins würden sich aber immer mehr Eltern trauen, auf ihr Recht zu bestehen, freut sich Patti. Und anders als in den umliegenden Landkreisen sei derzeit auch der Bedarf an Schulbegleitern noch abgedeckt. Tanja Patti sagt, ihr Verein sei einer, der sich auf das konzentriere, was schon gut funktioniere im Bereich der Inklusion. Das gefalle auch den politisch Verantwortlichen, die Zusammenarbeit laufe deshalb in der Regel gut. In der aktuellen Lage fühle sie sich jedoch in vielerlei Hinsicht alleine gelassen, sagt Patti. Denn was etwa machen Kinder, die so alt sind, dass sie einen Mundschutz tragen müssen, aber damit Schwierigkeiten haben? Oder anders herum: Was machen die, die darauf angewiesen sind, die Mimik des Gegenübers zu sehen, von den Lippen zu lesen? Auch hier lautet die Antwort, wie so oft, wenn es um die Belange von behinderten Menschen geht: "Du musst alles selbst in die Hand nehmen." Auch deshalb haben Patti und ihr Verein via Facebook einen Aufruf gestartet. Sie wollten "besondere Masken" mit Sichtfenster nähen. Ausgehändigt werden sollen sie an Therapeuten, Schulbegleiter, an Lehrer, die Inklusionskinder in der Klasse haben, sowie an alle Behindertenbeauftragten des Landkreises Dachau. Unterstützung bei der Umsetzung bekommt der Verein in Form von Stoffspenden von Ullmann Trachten, die Gruppe Corona-Hilfe Dachau hat Folien gesammelt und gemeinsam mit dem Lions-Hilfswerk die Masken genäht. In kürzester Zeit wurden so rund 250 Masken gefertigt.

Gleichzeitig fehlt gesamtgesellschaftlich das Verständnis für Menschen, die aus den verschiedensten Gründen keine Masken tragen können. "Menschen mit Behinderungen müssen weiterhin am öffentlichen Leben teilhaben können und dürfen nicht ausgeschlossen werden. Hier geht es nicht um eine Aushebelung der Maskenpflicht, sondern um gesundheitlich notwendige Ausnahmen", schrieb erst kürzlich Holger Kiesel, Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, in einer Pressemitteilung. Er weist aber auch darauf hin, dass die Ausnahmen nur mit ärztlichem Attest gelten, ein Behindertenausweis alleine reicht nicht.

Das Interesse der Menschen mit Behinderungen sei gegenüber dem Infektionsschutz als "grundsätzlich überwiegend" zu bewerten, stellt Kiesel klar. Menschen mit einer Hörbehinderung, psychischen Erkrankungen, Atemwegserkrankungen oder motorischen Einschränkungen dürften nicht ausgegrenzt werden - und doch passiert genau das immer wieder. Auch Tanja Patti sagt, sie würde sich derzeit nicht trauen, mit ihrem Sohn unterwegs zu sein, wenn dieser keine Maske trage - ganz unabhängig davon, ob er das dürfe oder nicht. Es ist nur noch ein weiterer Beweis dafür, dass Menschen mit einer Behinderung nicht mitgedacht werden - auch deshalb, weil man nicht allen Menschen ihre Beeinträchtigung auf den ersten Blick ansehen kann.

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SZ vom 12.06.2020
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