Süddeutsche Zeitung

Dachauer Symposium:Tief sitzende Vorurteile

Sinti und Roma werden noch heute diskriminiert - 74 Jahre nach dem Ende der NS-Zeit

Von Walter Gierlich, Dachau

"Sinti und Roma: Der nationalsozialistische Völkermord in historischer und gesellschaftspolitischer Perspektive." So lautet der Titel des diesjährigen Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte, das am Freitag/Samstag, 25./26. Oktober, im Max-Mannheimer-Haus stattfindet. Und wie im Vorjahr, als der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion im Zentrum stand, geht es auch diesmal um ein weitgehend verdrängtes und vergessenes Kapitel der NS-Geschichte, das bis heute nachwirkt.

Das zeigt eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) aus dem Jahr 2014. Jeder dritte Deutsche will nicht neben Sinti und Roma wohnen. Insgesamt ergab die Studie, für die mehr als 2000 Personen befragt wurden, dass den Sinti und Roma im Vergleich zu anderen Minderheiten die mit Abstand geringste Sympathie entgegengebracht wird. Bei der Frage: "Wie angenehm oder unangenehm wäre Ihnen eine bestimmte Gruppe in der Nachbarschaft?" schnitten Sinti und Roma am schlechtesten ab, gefolgt von Asylbewerbern und Muslimen.

Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, war über das Ergebnis entsetzt: "Die Studie zeigt, dass es eine hohe Ablehnung von Sinti und Roma gibt und dass tief sitzende Vorurteile immer wieder reaktiviert werden können." Das Feindbild "Zigeuner" sei in Deutschland immer noch hoch virulent. Für Rose gab es aber "auch positive Aspekte" der Studie, da 81 Prozent der Befragten gewusst haben, dass Roma und Sinti im Nationalsozialismus verfolgt wurden.

Das kann man in der Tat als positive Entwicklung werten, wenn man weiß, dass in Nachkriegsdeutschland jahrzehntelang die Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten - anders als der Holocaust - nicht als rassistisches Verbrechen angesehen wurde. Der Bundesgerichtshof stellte 1956 in einem Grundsatzurteil sogar fest, dass es sich bei der Deportation der "Zigeuner" in die Konzentrationslager nicht um eine Verfolgung aus rassischen Gründen gehandelt habe, sondern um eine "kriminal-präventive Maßnahme". Bis Ende der Siebzigerjahre verdrängten Staat, Behörden und Bevölkerung, aber auch Wissenschaft und Medien den NS-Völkermord, dem bis zu 500 000 europäische Sinti und Roma zum Opfer fielen. Erst 1980 trug ein von der Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma in der Dachauer KZ-Gedenkstätte initiierter Hungerstreik entscheidend zu einer Wende in der öffentlichen Wahrnehmung bei. 13 Jahre später rückte eine weitere Aktion die KZ-Gedenkstätte ins Licht der Weltöffentlichkeit: Roma, die vor den Jugoslawien-Kriegen nach Deutschland geflüchtet waren, protestierten hier wochenlang gegen ihre Abschiebung. Doch Dachau war schon in der NS-Zeit in Bezug auf den Völkermord an Sinti und Roma ein zentraler Ort, waren doch von 1938 an große Gruppen dieser Minderheit im hiesigen Konzentrationslager inhaftiert und dort vor allem verbrecherischen Medizinversuchen ausgesetzt.

Daher ist es nur folgerichtig, dass Projektleiterin Sybille Steinbacher, Historikerin an der Goethe-Universität in Frankfurt, den nationalsozialistischen Völkermord an Sinti und Roma und die Kontinuität von Diskriminierung und Ausgrenzung nach dem Ende der Nazi-Herrschaft zum Thema gewählt hat. Die wissenschaftliche Leitung der Veranstaltung, die sich nicht nur an Spezialisten, sondern an eine breite interessierte Öffentlichkeit wendet, hat Karola Fings vom NS-Dokumentationszentrum Köln inne. Sie wird die Tagung mit einem Einleitungsreferat eröffnen. Mit einer Podiumsdiskussion unter dem Titel "Von der Anerkennung als NS-Opfer zur gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe?" geht das Symposium am Samstagmittag zu Ende. Über diese Frage debattieren Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Mirjam Karoly vom Romano Centro in Wien und Jana Mechelhoff-Herezi (Berlin), bei der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" für die Erinnerung an Sinti und Roma zuständig. Die Moderation übernehmen Karola Fings und Sybille Steinbacher.

Das Symposium beginnt am Freitag, 25. Oktober um 13 Uhr und endet am Samstag um 12.30 Uhr. Besucherinnen und Besucher aus Dachau bezahlen übrigens keine Teilnahmegebühr. Das genaue Programm ist im Internet unter www.dachauer-symposium.de zu finden.

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Quelle:
SZ vom 24.10.2019
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