Süddeutsche Zeitung

Dachauer Symposium für Zeitgeschichte:Die Vergessenen verschaffen sich Gehör

Erst Jahrzehnte nach dem Genozid an Sinti und Roma markiert ein Hungerstreik von Aktivisten in Dachau den Wendepunkt in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Volksgruppe. Der Tagungsband des Zeitgeschichts-Symposiums zeichnet diese Entwicklung nach

Von Walter Gierlich, Dachau

Derzeit ist viel vom erschreckenden Anstieg des Antisemitismus hierzulande die Rede. Kaum in die Schlagzeilen schafft es hingegen eine andere Form von Rassismus und Diskriminierung gegen eine Minderheit, die ebenfalls einem Völkermord der Nazis zum Opfer fiel: der Antiziganismus, unter dem Sinti und Roma in Deutschland zu leiden haben. Fast bruchlos haben sich die Vorurteile gegen die seit mehr als 600 Jahre hier lebende Volksgruppe nach der Befreiung vom Nationalsozialismus bei Behörden, der Polizei und in weiten Teilen der Gesellschaft erhalten. "Die Zeit nach 1945 wurde von Überlebenden zu Recht als eine ,zweite Verfolgung' empfunden", schreibt Karola Fings in dem Tagungsband "Sinti und Roma. Der nationalsozialistische Völkermord in historischer und gesellschaftspolitischer Perspektive" über das Dachauer Symposium für Zeitgeschichte 2019.

Fings, Leiterin des Projekts "Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa" an der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg, hat den Band gemeinsam mit Sybille Steinbacher herausgegeben, die Professorin für Geschichte und Wirkung des Holocaust an der Frankfurter Goethe-Universität sowie Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts ist. Sie organisiert die jährlich stattfindenden Dachauer Symposien seit 2012. Anders als die Shoah ist dem Genozid an den Sinti und Roma in der Bundesrepublik lange die Anerkennung verweigert worden. Erst 1982 bekannte Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), dass es sich bei der Tötung Hunderttausender Männer, Frauen und Kinder um einen Völkermord gehandelt habe.

Zwei Jahre zuvor war ein Ereignis in Dachau zum "Wendepunkt in der Wahrnehmung der Minderheit" geworden, wie Fings betont: Der Hungerstreik von elf Sinti, darunter drei Überlebende von Konzentrationslagern, und einer Münchner Sozialarbeiterin vom 4. bis 12. April 1980 auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte. Sie wollten damit "auf die jahrzehntelange rassistische Praxis bayerischer Polizeibehörden aufmerksam" machen. Die Aktion machte weltweit Schlagzeilen und wurde zum Gründungsereignis der Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma. Vorgeschichte und Ablauf des Hungerstreiks stellt die Historikerin Daniela Gress dar und zeigt dabei den heftigen Widerstand der Behörden gegen die Aktion auf und auch, mit welch absurden Begründungen seitens der Stadt und mancher CSU-Politiker die Pläne für ein Kulturzentrum der Sinti und Roma in Dachau abgelehnt wurden. Die Vorurteile gegenüber dem Volk der Sinti könnten auf die Dachauer übertragen werden, meinte etwa der damalige Oberbürgermeister Lorenz Reitmeier. Und der CSU-Landtagsabgeordnete Richard Hundhammer fürchtete, die Stadt könnte zu einem "Anziehungspunkt für Zigeuner aus ganz Europa" werden.

"Für uns gibt es das Wort Zigeuner nicht", betont dagegen Tatjana Schmidt, "wir sind deutsche Sinti und gehören zum deutschen Volk." Sie und ihre Schwester Nicole, deren Großeltern aus dem niederbayerischen Eggenfelden stammten, nach Auschwitz deportiert wurden und wundersamerweise überlebten, sprechen im wohl emotional berührendsten Kapitel über ihre Familiengeschichte und den Antiziganismus, den sie bis heute erleben. Hakenkreuzschmierereien auf ihrem Auto beispielsweise oder die Schändung eines Grabmals und eines Gedenksteins für die in Auschwitz ermordeten Angehörigen.

Am schlimmsten aber empfand Tatjana Schmidt, als Kinder ihnen erzählten, dass ihre Eltern ihnen verboten hätten, bei den "Zigeunern" zu klingeln, weil die böse seien. Ihre Schwester Nicole erzählt, dass sie einst schon mit der Angst groß geworden seien, die nach den schrecklichen Ereignissen der NS-Zeit unter den Überlebenden der Familie weiterhin geherrscht habe. "Heute haben wir wieder Angst, weil Leute wie die von der AfD im Bundestag sitzen", erklärt Tatjana.

Das Gespräch hatte die Historikerin Sarah Grandke beim Symposium mit den beiden Schwestern geführt. Sie stellt im ersten Kapitel des Buches die Verfolgung von Sinti und Roma und deren zunehmende Radikalisierung nach 1933 am Beispiel Münchens dar. 141 Sinti, davon 69 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, wurden 1943 von hier ins sogenannte "Zigeunerfamilienlager" nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. 99 der Deportierten überlebten die Lagerhaft nicht. Viele derjenigen, die in ihre Heimatstadt zurückkehrten, erlebten dort den nächsten Schock: Sie trafen "in den Amtsstuben auf genau die Personen, die sie und ihre Familien ins KZ gebracht hatten", schreibt Grandke. "In einem ganz erheblichen Maß mussten die Sinti und Roma erfahren, dass die Kontinuität in den Polizeibehörden nach 1945 sehr hoch war."

Erstmals überhaupt gibt Steffen Jost, bis 2020 Leiter der Bildungsabteilung der KZ-Gedenkstätte Dachau, einen Überblick über die im dortigen Lager inhaftierten Sinti und Roma, deren Zahl er auf ungefähr 2400 bis 2900 schätzt. Genaue Zahlen seien schwer zu ermitteln, weil sie in den ersten Jahren oft der Gruppe der sogenannten "Asozialen" zugeordnet worden seien. Nach 1938 kamen viele österreichische Roma ins Dachauer KZ, später dann ungarische und kurz vor Kriegsende Häftlinge aus Lagern im Osten. Noch andere Dimensionen hatte der Genozid in anderen Teilen Europas. Sogar von "Killing Fields" spricht der Historiker und Slawist Martin Holler, der die Massenverbrechen an Roma auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion und Jugoslawiens beleuchtet. Die meisten wurden dort nicht in Lagern ermordet, sondern an Ort und Stelle ohne Registrierung erschossen. Daher gibt es bisher keine genauen Opferzahlen, genannt werden zwischen 200 000 und 500 000 Getötete.

Frank Reuter, Leiter der Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg, weist daraufhin, dass es kaum Bilddokumente über die Massenerschießungen gebe, "ein Grund, warum das Verbrechen so lange verdrängt wurde". Stattdessen seien in Publikationen hauptsächlich Fotos aus der NS-Rassenforschung oder von Propagandakompanien zu finden, die antiziganistische Zerrbilder liefern. Ähnliches gilt für schriftliche Zeugnisse, wie der Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands, Gerhard Baumgartner, in seinem Beitrag aufzeigt. Zwar habe es schon früh Selbstzeugnisse österreichischer Roma und Sinti gegeben, sie hätten aber kaum Beachtung gefunden, sodass auch hier jahrzehntelang die Täterperspektive im Vordergrund gestanden habe.

Nicht nur die Überlebenden, die nach München zurückkehrten, mussten erleben, dass der Antiziganismus nach 1945 keineswegs verschwunden war. In Hamburg sah es nicht anders aus, wie die Zeitgeschichtlerin Yvonne Robel schildert. Sie macht vor allem tief sitzende Vorurteile und eine personelle Kontinuität in den Behörden dafür verantwortlich. Neben Polizei, Entschädigungs- und Sozialbehörden müssten nach ihrer Ansicht auch jene Akteure mehr beachtet werden, die den Umgang mit Sinti und Roma am jeweiligen Ort prägten und nach Einschätzung Robels oft noch heute prägen: Gesundheits-, Schul- oder Baubehörden. Mit einer solchen lokalen oder regionalen Perspektive ließen sich antiziganistische Praktiken eher aufzeigen und kritisch hinterfragen. Doch wie schwierig es ist, den Völkermord an Sinti und Roma einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, macht Steffen Jost in seinem zweiten Aufsatz deutlich. Denn angesichts des meist geringen Vorwissens müsse zunächst Interesse hergestellt werden, "weil das Thema nicht einfach zu verkaufen ist".

Im Schlussbeitrag des Bandes wird eine Podiumsdiskussion der beiden Herausgeberinnen wiedergegeben, an der Robert Sigel, Historiker und Mitarbeiter des bayerischen Antisemitismusbeauftragten im Kultusministerium, Mirjam Karoly vom Romano Centro in Wien und mehrere Jahre bei der OSZE für Sinti und Roma zuständig, und Romani Rose, 1980 Wortführer des Hungerstreiks in Dachau und seit 1982 Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, teilnahmen. Sigel räumt ein, dass in bayerischen Lehrplänen genau wie in Schulbüchern der Genozid an Sinti und Roma kaum erwähnt werde. Er hält daher einen Masterplan für notwendig, "wie man an Schulen mit diesem gesamten Thema von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, mit Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus umgeht". Und das sei nicht nur in Deutschland nötig, meint Mirjam Karoly angesichts der Situation der Roma: "Es ist ein sehr trauriges Bild, wenn wir nach Europa schauen." Dank gesellschaftlicher Erfolge von Bürgerrechtsinitiativen gebe es aber auch positive Lichtblicke: "Roma haben sich in Europa Gehör verschafft und wurden gehört."

Auch Romani Rose sieht Fortschritte. Heute hätten Sinti und Roma eine andere Sichtweise auf den Staat, "und wir sehen die Situation nicht mehr so wie in den Achtzigerjahren". Damals war es so, dass die Täter aus dem Reichssicherheitshauptamt die Deutungsmacht "über unsere Minderheit" gehabt und deren Bild in der Öffentlichkeit bestimmt hätten, so dass diese von ehemaligen Tätern kriminalisiert worden sei. "Wo wir heute stehen - wenn mir das damals vor 40 Jahren jemand gesagt hätte, dann hätte ich gesagt: ,Du bist ein Fantast.'" Doch bei allem Erfreulichen beobachtet Rose gleichzeitig eine bedrohliche Entwicklung für die Demokratie, nämlich die Erfolge der Rechten. Und er kritisiert die häufige Gleichstellung einer angeblichen Bedrohung von rechts und links als unzulässige Relativierung, seien doch seit 1990 rund 200 Personen von Rechtsextremisten ermordet worden.

Wer einen Einstieg in ein beinahe vergessenes Kapitel deutscher Geschichte sucht, wird in dem Tagungsband fündig. Die Autoren zeigen die Verfolgung der Sinti und Roma vor 1945 und deren Diskriminierung bis heute breit gefächert und aus unterschiedlichen Perspektiven.

Karola Fings/Sybille Steinbacher (Hrsg.): Sinti und Roma. Der nationalsozialistische Völkermord in historischer und gesellschaftspolitischer Perspektive. Wallstein Verlag, Göttingen, 288 Seiten.

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SZ vom 21.06.2021
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