Die Vergangenheit vergeht nicht – der immer wieder versuchte Schlussstrich unter die deutschen Verbrechen gelingt nicht. Mal waren es Historiker wie Ernst Nolte, der 1986 Auschwitz mit dem stalinistischen Gulag aufrechnen wollte. Mal waren es Politiker der Rechten wie der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland, der 2018 den Nationalsozialismus als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte kleinzureden versuchte. Aber die Vergangenheit, und das ist gut so, tritt immer wieder hervor, so auch im Blick auf die Dachauer Prozesse von 1945 bis 1948.
Zu der Sonderausstellung darüber hat die KZ-Gedenkstätte jetzt einen 120 Seiten starken Katalog vorgestellt. Im Besucherzentrum sagte Oberstaatsanwalt Andreas Franck, Zentraler Antisemitismusbeauftragter der Bayerischen Justiz, die Prozesse seien ein rechtshistorisches Ereignis gewesen, das für ihn auch aus beruflicher Perspektive von Bedeutung sei. „Sie setzten Maßstäbe, die bis heute fortwirken.“
„Das Herzstück“ – aus rechtlicher Sicht – ist für den Staatsanwalt, wie er sagte, dass die Richter und Staatsanwälte damals in Dachau die anglo-amerikanische Rechtsfigur des Common Design anwandten. Danach war als Täterin und Täter grundsätzlich schuldig, wer beim Betrieb eines Konzentrations- und Vernichtungslager in welcher Funktion auch immer mitmachte, unabhängig davon, ob sie oder er bei einer Tötung anwesend war oder mitgewirkt hatte. Das aber taten die deutschen Gerichte nach 1949 nicht. Sie forderten den Einzelnachweis für die Beteiligung eines Angeklagten an einer konkreten Tötungshandlung in den Lagern – das war in vielen Fällen unmöglich.
461 Verfahren mit 1912 Angeklagten und 1419 Verurteilungen
Lag es daran, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte von ehemaligen Nazis durchsetzt waren? Es dauerte 70 Jahre, bis der Bundesgerichtshof es als ausreichend für eine Verurteilung ansah, dass Hilfskräfte eines Vernichtungslagers der „industriellen Tötungsmaschinerie“ zur Verfügung standen „und damit das Gesamtvorhaben der Ermordung der europäischen Juden gefordert hätten“, wie Franck erklärt.
„Als Staatsanwalt und Antisemitismusbeauftragter“, sagte Franck, „bin ich sehr dankbar“, dass durch diese Forschungsarbeit die Dachauer Prozesse aus dem Schatten der Nürnberger Tribunale geholt worden seien. In Nürnberg stand die Elite des „Dritten Reiches“ vor Gericht. In Dachau aber mussten sich, und das hatten sich die Alliierten bewusst zum Ziel gesetzt, auch die Vertreter der mittleren und unteren NS-Hierarchie für ihre Taten verantworten. „Jeder konnte sehen, das ist ein Mensch, der mein Nachbar sein könnte. Das war für die Aufarbeitung wichtig.“
Es waren insgesamt 461 Verfahren mit 1912 Angeklagten und 1419 Verurteilungen, darunter 303 vollstreckte Todesstrafen – aber, wie der Münchner Oberstaatsanwalt Franck sagte, auch hunderte Freisprüche, Amnestien und Todesurteile, die in Gefängnisstrafen umgewandelt wurden.

Dachauer NS-Prozesse:Kein Schuldbewusstsein
Die Dachauer Prozesse deckten die Beteiligung deutscher Bürger am KZ-System auf. Die Verfahren hätten eine Chance sein können. Der Historiker Robert Sigel erklärt, warum sie nicht genutzt wurde.
Die wenigsten jedoch wollten in den Angeklagten ihren Nachbarn oder gar sich selbst sehen. In Dachau wendeten, wie im Laufe der Diskussion erklärt wurde, die meisten Menschen von den Prozessen ihren Blick ab – so wie sie, Mitläufer und Zuschauer und Profiteure der Naziverbrechen, das zwölf Jahre lang getan hatten. Franck geht darauf ein: Von Anfang an seien die Militärprozesse – in rechtsextremen Kreisen noch heute – als „Siegerjustiz“ geschmäht worden. Die pure Statistik, so Franck, spreche dagegen: Es gab nicht nur 256 Freisprüche, von den insgesamt fast 3000 Ermittlungsverfahren endete nur ein Teil in einer Anklage.
Wie weit Abwehr und Leugnung nachwirken, lässt sich heute auch daran erkennen: Was ihn zu Anfang der Arbeit an dem Projekt überrascht habe, sagte Christoph Thonfeld, stellvertretender Leiter der KZ-Gedenkstätte, wie viele von den Dachauer Prozessen nur den Namen gekannt, aber sonst nichts darüber gewusst hätten.
Der Historiker Thonfeld und sein Team, Christian Schölzel, Percy Herrmann und Esther Lindenlauf, haben das Projekt – Ausstellung, Katalog und jetzt auch den virtuellen 360-Grad-Rundgang durch die Sonderausstellung, die bis zum 31. Dezember 2026 verlängert wurde, auf die Beine gestellt. Der Katalog enthält zwei zusätzliche Aufsätze, „Die westdeutsche Strafjustiz und die im KZ Dachau begangenen Verbrechen“ der Historikerin Edith Raim, und „Die Dachauer Prozesse im internationalen Kontext der strafrechtlichen Aufarbeitung von NS-Verbrechen durch die Alliierten“ von Wolfgang Form.
500 000 Blatt Aktenmaterial sollen noch digital erfasst werden
„Bis heute stellen die Akten aus den Strafverfahren eine der wichtigsten Grundlagen für die Erforschung der Geschichte der Konzentrationslager dar“, schreibt Raim. Die Gedenkstätte wird 500 000 Blatt Aktenmaterial noch digital erfassen lassen. 550 Archivboxen haben die Wissenschaftler zusammengetragen, auch Beweismittel wie Kugeln, Bilder oder Kleidungsstücke. Der Katalog, verfügbar auf Deutsch und Englisch, bietet eine Grundlage für die Auseinandersetzung jedes einzelnen mit der eigenen Geschichte – wenn er es denn wünscht.


Der ehemalige Landtagsvizepräsident Karl Freller (CSU), Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, machte noch auf einen weiteren Punkt aufmerksam. „Die Dachauer Prozesse versuchten zumindest einen Rahmen für Gerechtigkeit zu schaffen – auch wenn wir wissen, dass dieses Unrecht niemals wiedergutgemacht werden kann.“ Die Projektbeteiligten hätten folglich den Fokus auf die Stimmen der Überlebenden gerichtet. „Durch ihren Mut und ihre Offenheit wurden diese Prozesse erst möglich. Ihre Erfahrungen sind das Herzstück unserer Erinnerungsarbeit“, sagte Freller.
Kein einziger der Angeklagten habe Reue gezeigt, so Thonfeld in der anschließenden Diskussion, moderiert von der Historikerin und Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann. Den Überlebenden sei es schwergefallen, sich in der neuen Rolle etwa als Zeugen zurechtzufinden. Aber sie seien wieder zu Akteuren ihres eigenen Schicksals geworden.