Dachauer Kunstprojekt:Stillleben mit Stahlbeton

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Das Abbruchgelände der alten Papierfabrik bekommt Besuch von den "Urban Sketchers" aus München und Augsburg: Die 24 Zeichner verewigen die verfallenden Gebäude und rostenden Industriemaschinen auf ganz individuelle Art

Von Jana Rick, Dachau

Martin Fritz wirft noch einmal einen Blick auf das zerfallene Gebäude, dann setzt er den Pinsel wieder auf seinem Zeichenblock an und zieht sorgsam eine Linie. "Es geht darum, den Charakter festzuhalten", erklärt. Dieses Ziel haben sich auch die anderen 23 Mitglieder der Zeichner-Community "Urban Sketchers" aus München und Augsburg für die nächsten fünf Stunden vorgenommen: Sie möchten die alte MD-Papierfabrik in Dachau zeichnerisch festhalten, bevor sie in den kommenden Monaten fast komplett abgerissen wird. Die Idee, das MD-Gelände als Zeichenmotiv zu verwenden, hatte Thomas von Kummant schon lange. Der Dachauer Künstler und Illustrator, der vor allem durch seine international erfolgreiche Comic-Reihe "Gung Ho" bekannt ist, lud die Urban Sketchers in die Ostenstraße ein, um gemeinsam die alte Fabrik mit Pinsel oder Filzstift festzuhalten.

Den Sketchers wurde dafür der Eintritt auf das 17 Hektar große Industriegelände genehmigt - auf eigenes Risiko allerdings. Das ist es den Künstlern allemal wert, denn das Areal bietet eine Vielzahl an ungewöhnlichen, spannenden Motiven: Jeder Zeichner hat sich ein anderes "Stückchen" Industrie vorgenommen, sei es ein alter Zigarettenautomat aus den Sechzigerjahren, der noch verstaubt an einer Wand der Halle hängt, das gusseiserne Zahnrad einer Turbine oder der jedem in Dachau bestens vertraute alte rostige Wasserturm.

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(Foto: Jana Rick)

Bei 150 Jahren Industriegeschichte auf 17 Hektar findet jeder Künstler ein spannendes Motiv, das es lohnt, gezeichnet zu werden.

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(Foto: Jana Rick)

Jeder hat seinen eigenen Stil...

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(Foto: Jana Rick)

...und jeder seinen eigenen Klappstuhl.

Martin Fritz hat sich einen Durchgang zwischen den Lagerhallen für seine Zeichnung ausgesucht. Auf seinem Block sind graue Rohre zu erkennen, die zwischen grünem Moos fast unscheinbar wirken. "Es ist toll zu sehen, wie sich die Natur wieder alles zurückholt", sagt der Künstler aus München. Immer wieder blickt er von seinem Papier auf und nimmt die Einzelheiten seiner Umgebung auf; dann neigt sich sein Kopf wieder hinab zur Zeichnung. Er achtet auf jedes kleinste Detail, die Rundung der Rohre und ihren ganz speziellen Grauton. Um den Zeichner herum tropft derweil das Wasser von der maroden Decke wie in einer Tropfsteinhöhle.

Die Natur ist auch in der Zeichnung von Alina Schmidt sichtbar. Die 33-Jährige sitzt auf einem kleinen Stuhl vor der Fabrik, ihr gegenüber steht eine einsame rote Zapfsäule. Kraftstoff gibt es hier keinen mehr, alles ist zugewuchert vom Blattwerk und den lila Blüten der Fliederbüsche, die hier bestens gedeihen. "Eigentlich hasse ich es, Grünzeug zu malen", sagt die Augsburgerin lachend. Aber sie konnte es sich nicht nehmen lassen, diesen besonderen Ort auf Papier zu verewigen.

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(Foto: Jana Rick)

So mancher setzt sich zum Zeichnen in eine idyllische Landschaft oder an einen belebten Ort - die "Urban Sketchers" hingegen wählen das verfallende Fabrikgelände in Dachau.

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(Foto: Jana Rick)

Am Ende des Treffens zeigen alle Zeichnerinnen und Zeichner, was sie gezeichnet haben

Seit 2015 ist Schmidt Teil der Urban Sketchers, die sich einmal im Monat treffen, um gemeinsam zu zeichnen. "Es macht Spaß, in der Gruppe zusammen loszuziehen. Das nimmt mir persönlich die Hemmung, in der Öffentlichkeit zu malen", erklärt sie. So wurden von der Gruppe unter anderem schon der Gärtnerplatz, das Oktoberfest oder der Viktualienmarkt gezeichnet. Die Künstler geben sich auch gegenseitig Tipps und tauschen sich über Maltechniken aus oder über ganz praktische Dinge. Zum Beispiel, wie man mit Magneten im Boden des Wasserglases sicherstellt, dass das Glas nicht bei der kleinsten Neigung vom metallischen Farbmalkasten rutscht - oder Aquarellstifte aus Japan, die mit Wasser gefüllt sind: ideal, um unterwegs malen zu können.

Zu diesem Ausflug in die Überreste der Fabrikanlage, deren Geschichte bis ins Jahr 1862 zurückreicht, gehören aber auch Taschenlampen, Fahrrad- und Kletterhelme. Denn ganz ungefährlich ist die Kulisse nicht: Glasscherben liegen am Boden und von den Mauern bröckelt der Putz. Alte Schilder mit "Achtung, Lebensgefahr" erinnern an die Zeiten, als hier noch riesige Maschinen Papier produzierten und Arbeiter hektisch von einer Halle in die nächste liefen. Die Zeichner wirken auf ihren kleinen Campingstühlen zwischen den haushohen Rohren und Bergen an Metallschrott fast schon verloren auf dem riesigen Areal. Während die zerbrochenen Fensterscheiben, die verlassene Kantine und längst stehen gebliebenen Uhren etwas düster, ja fast schon gruselig wirken, lassen die Künstler die alte Fabrik mit ihren Farben wieder lebhaft aufleuchten: Die Hausfassade erscheint etwas gelber als sie in Wirklichkeit ist, die blassgrüne Maschine zeigt ein freundliches Olivgrün. Es entstehen stille Malereien, die Geschichten erzählen. Dafür kommen auch Utensilien aus der Fabrik direkt zum Einsatz: Alte Stempelbuchstaben werden bunt bemalt und auf die Blöcke gedrückt.

Trotz des regnerischen Wetters zeigen die 24 Sketchers, was "Industrial Beauty" bedeutet und wie ästhetisch ein solch rauer Ort sein kann. Künstler Frank Ramspott ist einer der wenigen, der sich für ein Motiv aus der Gegenwart entschieden hat: einen knallgelben Abrissbagger. Er macht deutlich, dass bald nicht mehr viel von der alten Fabrik zu sehen sein wird. Doch die geheimnisvollsten, interessantesten und schönsten Orte der alten Papierfabrik sind nun festgehalten. Und wenn es klappt, sollen die Bilder auch bald in einer gemeinsamen Ausstellung in Dachau zu sehen sein - als Kunstwerke, aber auch als historische Dokumente.

© SZ vom 17.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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