Süddeutsche Zeitung

Dachauer Kontaktangebote:Nur selten klingelt das Plauschofon

Im Zuge der Corona-Krise haben kirchliche und soziale Dienste im Landkreis eine Reihe von Telefonangeboten eingerichtet, in denen man sich den Kummer von der Seele reden kann. Doch gerade Senioren, die oft besonders isoliert sind, scheuen sich, zum Hörer zu greifen

Von Julia Putzger, Dachau

Der Ratsch am Gartenzaun, ein kleiner Plausch an der Supermarktkasse, ein paar nette Worte am Gehweg - solche beiläufigen Gespräche sind aufgrund der Beschränkungen rund um Covid-19 selten geworden. Wer nicht gemeinsam mit anderen in einem Haushalt lebt - das betrifft vor allem alleinstehende Senioren - merkt dies besonders stark; das Gefühl von Einsamkeit schleicht sich ein. Aus diesem Grund und um anderen in dieser schwierigen Situation beizustehen, gibt es im Landkreis Dachau zahlreiche Telefondienste, an die man sich für ein lockeres Gespräch ebenso wenden kann, wie um Frust über die aktuelle Lage abzubauen. Doch die Anbieter berichten: Zum Hörer griff in den vergangenen Wochen nur selten jemand.

"Wir hatten gedacht, dass alle einen Wahnsinnsredebedarf haben", sagt Karin Ulrich, Leiterin des Mehrgenerationenhaus Dachau, das seit Mitte März das "Plauschofon" betreibt. Doch tatsächlich sei die Anruffrequenz sehr gering - "ausbaufähig", wie Ulrich es formuliert. Im Schnitt gebe es an jedem Tag einen Anruf, weshalb das Angebot nun nur noch vormittags zwischen 9 und 12 Uhr zur Verfügung steht und von Ulrich und ihrer Kollegin Anja Mußmann-Walter betreut wird.

Ursprünglich konnte man das Plauschofon auch nachmittags anrufen, am Apparat waren dann Ehrenamtliche, die sich zum Telefondienst gemeldet hatten. Gedacht war das Plauschofon als Angebot für jedermann, der einfach ein bisschen reden wollte - egal ob "genervt von der Isolation oder angestrengt vom Kindertrubel", wie es auf der Website heißt. "Wir wollten bewusst ein sehr niederschwelliges Angebot wie ein Ratsch am Gartenzaun. Manchmal sind die Anrufe aber auch eher am Rand des psychiatrischen Bedarfs", erzählt Ulrich. Das erklärt sie sich durch eine gewisse Hemmschwelle: "Ein bisschen im Argen muss es schon sein, damit jemand anruft." Wenn es dann aber soweit sei, dann "blubbert alles, was so los ist, raus. Wie wenn man den Stöpsel aus einer Flasche zieht", sagt die Leiterin des Mehrgenerationenhauses.

Einer derjenigen, die sich freiwillig gemeldet hatten, um zum Hörer zu greifen und Mitmenschen mit ihren Sorgen nicht allein zu lassen, ist Hans-Peter Eisinger. Der 64-jährige Rentner hatte seine Hilfe zum Beispiel am Osternachmittag angeboten - aber das Telefon klingelte nicht. "An anderen Tagen gab es aber sogar Anrufe aus anderen Bundesländern", weiß Eisinger. Außerdem hat er sich als sogenannter Telefonengel bei der Münchner Organisation Retla eintragen lassen. Anders als beispielsweise beim Plauschofon werden Anrufer dort von einem der Telefonengel zurückgerufen und falls gewünscht entsteht eine Telefonpatenschaft oder, wie Eisinger es nennt, eine "Mini-Selbsthilfegruppe". Bisher war er mit einem Herren in Kontakt: "Ich habe angerufen und dann hat er 20 Minuten lang einfach nur erzählt. Als ich versuchen wollte, ihm einen Rat zu geben, hatte er schon aufgelegt. Er wollte wohl einfach nur alles rauslassen."

Traditionell bieten auch die kirchlichen Gemeinden Seelsorge an. Bedingt durch Corona steigen auch sie teilweise auf telefonische Angebote um wie beispielsweise die Dachauer Gnadenkirche mit dem Angebot "Telefonieren gegen die Einsamkeit." Doch Pfarrerin Ulrike Markert stellte ebenfalls fest: Es meldete sich so gut wie niemand. Darum beschlossen sie und ihr Team, den direkten Kontakt zu suchen und riefen vor Ostern etwa300 Menschen an, unter ihnen vor allem Gemeindemitglieder über 70 Jahren. "Die Menschen haben sich sehr über den Anruf gefreut, dass wir sie nicht vergessen haben. Aber von sich aus hätten sie nicht angerufen, weil sei denken: Mir geht es ja nicht schlecht", erzählt Markert. Durch die Anrufe habe die Pfarrerin auch erfahren, dass die Menschen durch verschiedenste Netzwerke viel besser versorgt seien, als sie es befürchtet hatte.

Neben dem evangelischen Angebot gibt es seit Anfang April außerdem das Corona-Seelsorge-Telefon, eine Initiative der Krankenhausseelsorge des Helios-Amper-Klinikums in Kooperation mit verschiedenen lokalen Partnern. Neben Leiterin Martina Schlüter sind insgesamt 28 Pastoral- und Gemeindereferenten aus den Dekanaten Dachau und Markt Indersdorf im wechselnden Einsatz, um Anrufe jeden Tag zwischen 9 und 21 Uhr entgegenzunehmen. Doch auch hier fällt die Bilanz gemischt aus. Bisher sei das Angebot nur "verhalten" angenommen worden, informiert Schlüter. Ungefähr 15 Anrufe, etwa zwei bis drei pro Woche seien es gewesen - doch die Tendenz sei steigend.

Telefonische Kontakt- und Seelsorge

Unter der Nummer 0151/20200423 sind die Seelsorger des Corona-Seelsorge-Telefons täglich von 9 bis 21 Uhr erreichbar. Dabei handelt es sich um eine Initiative der Krankenhausseelsorge in Kooperation mit den Helios-Amper-Kliniken Dachau und Markt Indersdorf, der Trauerpastoral im Landkreis Dachau, der Notfallseelsorge und der Seelsorger der Erzdiözese München und Freising in den Dekanaten Dachau und Markt Indersdorf. Mit dem "Telefonieren gegen die Einsamkeit" stellt auch die evangelische Gnadenkirche in Dachau ein Seelsorgeangebot zur Verfügung. Pfarrerin Ulrike Markert ist unter der Nummer 08131/31420 erreichbar. Wer sich eher nach einem lockeren Gespräch sehnt, wählt am besten die Nummer des Plauschofons, nämlich die 08131/6655046. Die Mitarbeiter des Mehrgenerationenhaus Dachau haben von Montag bis Freitag von 9 bis 12 Uhr ein offenes Ohr für Anliegen aller Art. JUPU

Unter denjenigen, die die Nummer des Corona-Seelsorge-Telefons wählten, seien Alleinstehende ebenso wie in Beziehungen und Familien lebende Menschen; der jüngste Anrufer sei 35, der älteste 75 Jahre alt gewesen, schätzt Schlüter. Es meldeten sich mehr Frauen als Männer. Auf die Frage, warum diese Menschen das telefonische Angebot nutzten, antwortet die Pastoralreferentin: "Manche haben keine Vertrauensperson bei ihren Angehörigen, manche haben keine Angehörigen, manche wollen ihre Angehörigen nicht mit ihren Sorgen belasten. Manche suchen Rat bei einer neutralen Person. Und manche wollen speziell mit einem Seelsorger reden, weil sie einen Sinn im Geschehen suchen." Ebenso vielfältig seien die Anliegen, die von Belastungen durch die Corona-Krise bis zu wieder aufflammenden Verlusterlebnissen reichten. Einen konkreten Rat geben die Seelsorger jedoch nicht: "Es geht darum, mit den Gesprächspartnern nach einer Lösung zu suchen und ihre Kraftquellen zu finden. Manches muss offen bleiben, Leid kann selten genommen werden, sondern nur mit ausgehalten", sagt Schlüter. Dazu gehöre Schweigen ebenso wie Weinen.

Als 64-Jähriger könnte der Telefonengel Eisinger selbst einer derjenigen sein, denen Hilfe angeboten wird. Seine Einschätzung dazu, warum die verschiedenen Telefonangebote kaum angenommen werden und "am Bedarf vorbeigehen", ist, dass es rein durch die Sozialisation "für uns in einem gewissen Alter wahnsinnig schwierig ist, Hilfe anzunehmen. Wir sind das nicht mehr gewohnt." Außerdem glaubt er, dass die Angebote zu unkoordiniert auf einmal aus dem Boden geschossen seien. Beispielsweise in Berlin gebe es hingegen schon seit längerer Zeit gewachsene und somit bekannte Angebote. Das bestätigt auch Karin Ulrich vom Mehrgenerationenhaus, die mehr Anrufer beim Plauschofon registrierte, nachdem ein Text mit Bild der Kollegin in der Zeitung erschienen war. "Die Leute trauen sich eher ein bekanntes Gesicht anzurufen", schlussfolgert sie.

Obwohl es derzeit zahlreiche Möglichkeiten gibt, am Telefon die Last der eigenen Sorgen zu lindern, sorgt sich Eisinger - darum nämlich, wie es auf längere Zeit weiter geht. Die Motivation vieler ehrenamtlicher Helfer sei zwar zu Beginn hoch gewesen, ebbe aber mit der Zeit ab. Gleichzeitig könnte auch der Rückhalt, den Senioren aus der Familie erfahren, nachlassen, wenn Kinder und Enkel wieder voll im Berufs- und Schulalltag eingespannt seien. Vom Zu-viel-auf-einmal könnte es also zu einer zu drastischen Reduktion kommen, befürchtet der Rentner. Er hofft deshalb, dass einige der Angebote auch längerfristig bestehen werden.

Eines der Angebote, das bereits verschwunden ist, ist das "Ratsch-Telefon" des BRK Dachau. "Wir waren ein bisschen zu spät dran", erklärt Paul Polyfka, Kreisgeschäftsführer des BRK Dachau. Zwar habe man mit dem Ratsch-Telefon auf konkreten Bedarf hinreagiert - "wir wurden mehrfach angefragt und auch der Rettungsdienst wurde diesbezüglich angesprochen" - doch schlussendlich habe es nur eine Handvoll Anrufe gegeben. Die ausgeklügelte Technik, die extra für den Telefonservice eingerichtet wurde, findet laut Polyfka intern trotzdem gute Verwendung. Außerdem: "Wir sind vorbereitet und bereit - ich drücke zwei Knöpfe und dann sind wir wieder da" berichtet der BRK-Geschäftsführer stolz.

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Quelle:
SZ vom 26.05.2020
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