Dachauer Forum:Goldfinger - und der Mythos von den Weltverschwörern

Der Antisemitismusbeauftragte Michael Blume aus Baden-Württemberg spricht auf der Auftaktveranstaltung des Dachauer Forums über die Ursprünge des Judenhasses und warnt eindringlich vor der wachsenden Gefahr für Demokratie und Minderheiten in Deutschland

Von Helmut Zeller, Dachau

Michael Blume, 43 Jahre alt, ist Religionswissenschaftler und liebt James Bond. Doch Blume fügt ein Aber hinzu: Goldfinger, der Oberschurke in einem der Filme, ist nach einem jüdischen Architekten benannt und wird als geldgieriger Superverschwörer vorgestellt, vor dem nur der Agent mit der "Lizenz zum Töten" die Welt erretten kann. "Dahinter", sagt Blume, "wirkt der alte antisemitische Mythos von der jüdischen Weltverschwörung". Michael Blume ist Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg, einer von zehn in ganz Deutschland. Im Adolf-Hölzel-Haus spricht er auf der Auftaktveranstaltung des Dachauer Forums zum neuen Programmjahr über antisemitische Stereotypen uralter Mythen, die durch die Massenkultur verbreitet werden.

Auch in der Hochkultur. Der eine, Literaturnobelpreisträger Günter Grass, hat mit "letzter Tinte" 2012 in einem Prosagedicht die "Atommacht Israel" als die Bedrohung des Weltfriedens ausgemacht; der andere hat 466 Jahre zuvor und sozusagen mit letztem Atem, drei Tage vor seinem Tod, in einer Predigt die Christen noch einmal aufgefordert, die Juden mitsamt "ihrem Gott, den Teufel", zu vertreiben. Wir wollen sie "bei uns nicht dulden noch leiden". So sprach der Reformator Martin Luther. Auch Aufklärer waren Judenhasser. Voltaire: "Ihr habt es verdient, bestraft zu werden, denn das ist euer Schicksal." Oder der große deutsche Philosoph Immanuel Kant, der den Juden die "Euthanasie" wünschte. Der Judenhass war integraler Bestandteil des christlich-abendländischen Denkens - und ist es auch nach Auschwitz geblieben.

Dachauer Forum

Michael Blume, der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg, spricht auf der Auftaktveranstaltung des Dachauer Forums.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Situation heute: Angst geht um in den jüdischen Gemeinden, Jude ist wieder zum Schimpfwort geworden, Beleidigungen, Häme und Bedrohungen gehören zum Alltag der Juden in Deutschland. Bundesweit kam es 2018 zu 1799 antisemitischen Vergehen, vier Jahre zuvor waren es rund 200 Fälle weniger, im Jahr 2006 dagegen mehr als 1800. Die Polizei verzeichnete 2018 allein in Berlin einen drastischen Anstieg antisemitischer Straftaten. Besonders deutlich die Gewalttaten: 24 Fälle zählte die Staatsanwaltschaft, 2017 waren es noch sieben. Berlins Antisemitismusbeauftragte bei der Staatsanwaltschaft, Claudia Vanoni, sagt: "Die Taten bleiben auch 2019 auf konstant hohem Niveau." Laut einer Studie von Dezember 2018 sprachen 41 Prozent der deutschen Juden von antisemitische Erfahrungen im Vorjahr. 75 Prozent verzichteten manchmal oder immer auf das Tragen jüdischer Symbole wie Davidstern oder Kippa. 85 Prozent der deutschen Juden registrierten laut einer Umfrage der Agentur der EU für Grundrechte zunehmenden Judenhass - europaweit waren es nur in Frankreich mehr (89 Prozent).

Blume sagt, die Zahl der Antisemiten in Deutschland sei nicht gestiegen, schwanke zwischen 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Aber sie seien radikaler geworden, ob von links, rechts, von muslimischer Seite oder aus der Mitte der Gesellschaft. "Warum gerade jetzt wieder?" Blumes Antwort: "Die neuen Medien erschüttern die Gesellschaft, so wie 1485 der Buchdruck Europa erschüttert hat." Internet und soziale Medien radikalisierten den Antisemitismus, der als wahnhafter Glaube an jüdische Weltverschwörer nie weg gewesen sei. Der alte Mythos erfahre wieder eine Verstärkung und Verbreitung, die man 2005 nicht für möglich gehalten habe. Doch dann, sagt Blume: Ein Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag verteidigt 2016 die nachweislich gefälschten "Protokolle der Weisen von Zion", die gegenwärtig von den Judenhassern im Nahen Osten begierig aufgesogen werden. In Ungarn verfolgt der Premier im Wahlkampf eine antisemitische Kampagne gegen den jüdischen Philanthropen George Soros ab, der angeblich Europa durch "Flüchtlingsströme" zerstören wolle. 2015 und 2016 habe er, so Blume, bei einem humanitären Projekt im Irak gemerkt, dass sich "der Antisemitismus überhaupt nicht erledigt hat". Als Reaktion auf die Staatsgründung Israels 1948 wurden die etwa 140 000 Juden, die ihre Abstammung auf babylonische Zeiten zurückführen können, aus dem Land vertrieben.

Dachauer Forum: Der Vorsitzende der katholischen Bildungseinrichtung Anton Jais.

Der Vorsitzende der katholischen Bildungseinrichtung Anton Jais.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Aber der Judenhass eskaliere heute im Irak, er brauche keine Juden im Land. Jetzt würden die Jesiden, die Kurden als von Juden gesteuert verfolgt. Der Hass greift weltweit um sich, er trifft auch andere: Roma, Sinti, Flüchtlinge. Der Antisemitismus bekämpfe Freiheit, Menschenrechte und Demokratie. "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht", heißt der Titel seines neuen Buches.

Im Nationalsozialismus mit seinem eliminatorischen Antisemitismus wurden die Juden zur "Gegenrasse" schlechthin dämonisiert, die für alles Übel auf der Welt verantwortlich ist. "Aber warum die Juden, warum 0,2 Prozent der Weltbevölkerung? Kein Mensch glaubt an eine chinesische oder brasilianische Weltverschwörung." Blume sucht die Antwort in der Mythologie der Menschheitsgeschichte. "Am Anfang war der gute Mythos." Sem, ein mythologischer Vorfahre von Abraham, hat der jüdischen Tradition zufolge als erster in Alphabetschrift Recht und Religion gelehrt. Die hebräische Schrift ist die allererste Schrift überhaupt. Davor gab es Hieroglyphen, die Keilschrift mit hunderten oder tausenden Schriftzeichen, aber keine Alphabetschrift mit bis zu 30 Buchstaben, die allen Menschen leicht zugänglich ist.

Blumes Faszination überträgt sich auf die Zuhörer, im Saal wird es still: Das Judentum habe eine Schriftkultur begründet, in der jeder Mensch lesen und schreiben können sollte, in der auch das Recht verschriftet und dem Recht des Stärkeren entgegengesetzt worden sei. Die Menschenrechtserklärungen, der Rechtsstaat, Wissenschaft, die ganze Kultur wären nicht in der gleichen Weise ohne diese Erfindung möglich gewesen. Deshalb greife der Antisemitismus das Judentum an, glaube, dass die gesamte Welt durch eine böse Verschwörung bestimmt werde. Früher steckten Juden und Freimaurer dahinter, "heute sagt man Zionisten und Illuminaten".

Dachauer Forum

Etwa 50 Besucher kamen zum Dachauer Forum in das Adolf-Hölzel-Haus. Bezirkstagspräsident Josef Mederer (CSU) sitzt in der ersten Reihe.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

"Wenn wir den Antisemitismus wirklich besiegen wollen, dann müssen wir bereit sein, auf die dunklen Seiten unseres eigenen Herzens zu schauen", hat der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel einmal gesagt. Unter diesem Motto "Auf mich kommt es an!" steht das neue Schwerpunktprogramm des Forums. Vorsitzender Anton Jais hatte anfangs gefragt: "Was kann ein katholisches Bildungswerk tun, was kann jeder einzelne tun?" Ungefähr 50 Besucher sind gekommen, Blume will behutsam zu den eigenen Abgründen hinführen. Das gelingt nicht in jedem Fall. Nach fast eineinhalb Stunden spannenden Vortrags die Fragerunde: Ob denn nicht die Politik Israels gegenüber den Palästinensern zu einer Verschärfung des Antisemitismus beitrage? Autsch. Das alte Vorurteil, dass die Juden selbst schuld an ihrer Verfolgung seien. Der "Antisemitismus-Vorwurf", sagt einer, treffe jeden, der die Politik Israels kritisiere. Was er, Blume, denn dazu sage, dass die Stadt München allen BDS-nahen Gruppierungen öffentliche Räume verweigere, will eine Zuhörerin wissen. Blume erklärt, dass es eine legitime Kritik gebe, aber Boykottaufrufe gingen nicht, auch stehe das Existenzrecht Israels nicht zur Debatte. Es sei ein Paradox, sagt er, kein anderer Staat werde so nach doppelten Standards gemessen und dämonisiert - bis dahin, dass den Juden vorgeworfen werde, sie handelten wie die Nazis. Und das von Nachfahren der Täter und Mitläufer.

Aber Blume ist zufrieden. Er hatte befürchtet, dass gerade in Dachau ein Überdruss bei diesem Thema herrschen könne. Das Gegenteil sei der Fall gewesen - und zum Abschied sagt er, der seinen Vortrag mit Entertainerqualitäten bestritten hat: "Es ist uns immerhin gelungen, gegen den Hass und die Angst anzulachen." Manchmal blieb das Lachen auch im Hals stecken.

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