Süddeutsche Zeitung

Dachau:Zwischen Hoffen und Bangen

Lesung mit Josef Čapeks "Gedichten aus dem KZ"

Von Thomas Jordan, Dachau

Laut und pathetisch kündigt die erste Geige den Höhepunkt des zweiten Satzes an und nicht wenige haben diese Stelle in Felix Mendelssohn-Bartholdys Quartett Nr. 2 als ein musikalisches Seufzen interpretiert. Wer aber genau hinhört an diesem Abend im Innenhof der Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau, der kann im eindringlichen Violinenrezitativ aus dem Frühwerk des jüdischen Komponisten noch etwas anderes vernehmen: Ein sehnsüchtig-hoffnungsvolles Aufbäumen inmitten all der Moll-Töne. Zwischen Hoffen und Bangen liegt auch die lyrische Spannbreite, die an diesem Montagabend von Urs Heftrich vermessen wird: Der Heidelberger Slavist liest aus seiner vor kurzem erschienenen Übersetzung der Gedichte, die der tschechische Maler und Schriftsteller Josef Čapek als politischer Häftling in deutschen Konzentrationslagern verfasst hat.

In den Lesepausen intoniert das Odeon-Jugendsinfonieorchester das Frühwerk des deutschen Romantikers Mendelssohn-Bartholdy. Die vier Meter hohen, rauen Steinwände des grauen Betonschlunds vor der Versöhnungskirche werfen den fein akzentuierten, leicht schwäbischen Tonfall des Übersetzers zurück in das Publikum und verstärken die ohnehin schon konzentriert-nachdenkliche Atmosphäre noch einmal.

Der Innenhof der evangelischen Versöhnungskirche, zwei Meter unter der grauen Wüste aus Asphalt und Stacheldraht des KZ-Geländes in die Erde getrieben, ist ein Ort, um in Scham über das Geschehene zu versinken. Und doch bildet er auch eine "bergende Furche" inmitten all des Grauens. So formuliert es Pfarrer Björn Mensing, der Organisator der Dichterlesung. Es ist eine kaum zu glaubende, unbezwingbare Lebenshoffnung, die selbst an diesem bedrückenden Ort aus Čapeks Gedichten spricht. Manche, wie "Lied", entstanden nach fünfjähriger Lagerhaft: "Vielleicht werd' ich so alt, dass es noch reicht,/ vielleicht ist große Freude mir beschieden,/ das Leben hab ich sehr geliebt, vielleicht/ erkenn' ich die Geheimnisse der Blüten."

Der Kubist Čapek, der auch Kinderbücher schrieb, sei mit seinen Werken ein wesentlicher Bestandteil ihrer Kindheit in Tschechien gewesen, sagt Eva Rendl-Wypior, deren Vater das KZ Dachau überlebte. In ihrer kurzen, bewegenden Ansprache vor den etwa fünfzig Zuhörern betont sie den "demokratischen Effekt", die Bilder und Bücher von Čapek, der in seinen politischen Karikaturen vehement Stellung gegen den Nationalsozialismus bezog, auf seine Leser hatten: So verständlich und zugleich so fantasievoll sei seine Kunst gewesen, dass sie "alle vereinte - gleich wer sie waren, gleich woher sie kamen."

Form und Inhalt, das zeigt sich an diesem Abend im grauen Betonschlund der Versöhnungskirche, schließen sich in seinen Versen eng zusammen. Die oftmals strenge Reimform und das regelmäßige Auf und Ab von betonten und unbetonten Silben wirkt wie eine poetische Umgangsweise mit der Enge und Monotonie des KZ-Gefängnisses. "Starke, extrem authentische Lyrik" findet der Slavist Urs Heftrich. Es sind Verse, wie jene aus "Warten", die ihn beim Übersetzen unmittelbar berührt haben, man merkt das an seinem Vortrag an diesem Abend: "- was habe ich vollbracht in all den Jahren Haft?/ Nicht zu verzweifeln hier, ist das, was ich geschafft?/ am Leben, nicht lebendig, untot lebend, ach,/ ein armes Bündel Mensch, in dunkler schwarzer Nacht!"

Erst nach brutalen zehn Tagen Haft im Stehen im Gestapo-Gefängnis Berlin-Alexanderplatz hatte Josef Čapek die Poesie als Ausdrucksform für sich entdeckt. Und doch haben die strengen lyrischen Formen nicht nur ihm selbst, sondern auch seinen Mithäftlingen, die er in seinen Versen oftmals porträtierte, immer wieder eine sprachliche Möglichkeit eröffnet, die Hoffnung aufrecht zu erhalten. Es war am Ende eine Hoffnung, die schon ihre Fühler ausstreckte nach einer anderen als der diesseitigen Welt. Das klingt in den Versen durch, mit denen Urs Heftrich den Abend ausklingen lässt und die Zuhörer wieder dem Schweigen der rauen Steinwänden vor der Versöhnungskirche überlässt. Josef Čapek hat sie kurz vor seinem Tod vor dem Transport ins KZ Bergen-Belsen geschrieben: "Dann der große Reisetag/ - lang hast du ihn abgesehen:/Lebensernte, Schnitterschlag - /Stets wirst du nach Hause gehen!/"

Josef Čapek: "Gedichte aus dem KZ". Zweisprachige Ausgabe. Deutsche Erstausgabe. Aus dem Tschechischen von Urs Heftrich. Arco-Verlag, 2016.

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SZ vom 22.07.2016
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