Beim Zeitzeugencafé der Internationalen Jugendbegegnung (IJB) zieht David Sivor eine dunkelblaue Kappe aus der Tasche und präsentiert sie den jungen Leuten im Seminarraum. „90 is not the limit“, ist in Weiß darauf gestickt. Auf Deutsch: „90 ist nicht das Limit.“ Es ist das Motto des 90-Jährigen, der als Kind einer jüdischen Familie die NS-Diktatur überlebt hat. Am Sonntag war er im Max-Mannheimer-Haus, um seine persönlichen Erfahrungen der Verfolgung mit jungen Menschen zu teilen.
Insgesamt 60 Teilnehmende aus 19 Ländern sind in diesem Jahr Teil der 42. Internationalen Jugendbegegnung (IJB). Unter dem Schwerpunktthema „Antisemitismus“ setzen sich die jungen Leute im Alter von 16 bis 26 Jahren mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinander und ziehen daraus Schlüsse für die Gegenwart.
Nur knapp entkommt David Sivor den Häschern des NS-Regimes
Ein Auf und Ab der Gefühle erleben die Teilnehmenden im Gespräch mit David Sivor. Er sitzt am offenen Ende des Stuhlkreises, neben ihm ein Dolmetscher, der das Gesagte vom Hebräischen ins Englische übersetzt. Sivor ist ein echtes Sprachtalent, immer wieder wechselt er während des Gesprächs zwischen Hebräisch, Deutsch, Englisch und Slowakisch. Gleich zu Beginn übergibt er seine Digitalkamera an einen der Teilnehmenden und beauftragt ihn, Bilder zu machen, zur Erinnerung. Auch für Sivor ist der Austausch mit den jungen Leuten etwas Besonderes.
Geboren wurde er in der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Einen Großteil seiner Kindheit verbrachte er auf der Flucht vor den staatlichen Organen des NS-Regimes. Nur knapp konnte der zu Kriegsbeginn erst Fünfjährige der Verfolgung entkommen, mit Geschick und viel Glück, wie er selbst sagt. Mitten in Bratislava wurde er einmal von der slowakischen Polizei verhaftet, durch Zufälle landet er im gleichen Transporter wie sein Onkel. Der Transport hätte ihn in die Hände der Nationalsozialisten geführt, aber sein Onkel flüsterte ihm im richtigen Moment zu: „Spring!“ Und Sivor sprang aus dem Transporter und entkam. „Deswegen bin ich heute hier“, erklärt er. Bei einem Wiedersehen mit seinem Onkel nach Kriegsende habe dieser zu ihm gesagt: „Ich wusste, ich werde sterben, aber ich wollte, dass du lebst.“ Im Seminarraum ist es ganz still.
„Das Seminar ist ein Ort, an dem Religion keine Grenze ist.“
Immer wieder ergänzt Sivor seine Erzählungen auch durch nette Anekdoten. Er muss schmunzeln, während er erzählt, dass die Armbanduhr, die er trägt, immer wieder von Museen als Ausstellungsstück angefragt wurde. Die Uhr habe er als Kind zum Geburtstag bekommen und seiner Mutter gegeben, als diese keine hatte. Mit der Uhr am Arm wurde sie kurze Zeit später ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Sie überlebte und gab die Uhr beim Wiedersehen nach Kriegsende ihrem Sohn zurück, seither trägt er die Uhr.
Mit Ende des Gesprächs hinterlässt Sivor einige Denkanstöße: „Was ist der Unterschied zwischen einem Moslem und mir?“, fragt er. Für Sivor gibt es da keinen, auch deshalb lobt er die IJB: „Das Seminar ist ein Ort, an dem Religion keine Grenze ist“, erklärt er – ein Zustand, der in der aktuellen Weltlage kaum vorstellbar sei.
Austausch über die Vergangenheit
Tatsächlich ist Religion in den zwei Wochen der IJB kein Hindernis. Junge Menschen mit verschiedensten Hintergründen kommen hier zusammen. Egal, ob aus der Türkei, Mexiko, Russland oder Israel – gemeinsam wollen die Teilnehmenden Vergangenes aufarbeiten und sich austauschen. „Wir denken oft, wir wären allein mit unseren Problemen und Sorgen, aber wir haben alle mit ähnlichen Dingen zu kämpfen“, sagt Ela Ülstünkaya, eine Teilnehmerin aus der Türkei, auf Englisch.
Neben Sivor sind auch Ernst Grube, Tommy Shacham und Katalin Szegö angereist, um von ihren persönlichen Erfahrungen oder denen ihrer Familie zu erzählen. Bei Kaffee und Kuchen tauscht man sich anschließend über die Zeitzeugenberichte aus. Alexa Lisyokova Pavlovna, die eigentlich aus Bulgarien stammt, aber in Russland lebt, schätzt den Austausch sehr: „Es ist toll, Menschen zu treffen, die dieselben Interessen teilen“, sagt sie. Auch Jakub Klimczyk teilt seine Gedanken nach dem Gespräch „Eine Religion macht dich nicht besser oder schlechter“, sagt er. Klimczyk kommt aus einer Gegend nahe der KZ-Gedenkstätte Auschwitz. „Menschen aufzuklären, ist wichtig“, findet er, besonders bei diesem Thema.
Auch in der zweiten Woche der Internationalen Jugendbegegnung stehen Workshops rund um den Schwerpunkt „Antisemitismus“ an. Das Thema für dieses Jahr stand laut Projektleiterin Anja Schuller-Müller schon vor dem 7. Oktober 2023 fest, dem Tag des Angriffs der Hamas auf Israel, jetzt allerdings sei es umso wichtiger, sich mit dem erstarkenden Antisemitismus in der Welt auseinanderzusetzen.