Zwischen Martin-Huber-Treppe und Ludwig-Thoma-Haus verläuft quer durch die Dachauer Altstadt eine Straße, die es in sich hat. Die Wieningerstraße wirkt an den meisten Tagen beschaulich, ruhig, ein paar Wohnhäuser reihen sich aneinander. Ein fabelhaftes Café und ein Kerzengeschäft gehören neben dem Parkhaus schon zu den Hauptgründen, die kleine Gasse zu durchschreiten (und natürlich die stattliche Redaktionsheimat dieser Zeitung in der benachbarten Färbergasse). Wer nun also diese Einbahnstraße, die früher mal „Hintere Gasse“ und auch schon „Langgasse“ hieß, tagein tagaus entlanggeht, der wird irgendwann Details bemerken: Zum Beispiel den Stolperstein, der hier an Peter Bleisteiner erinnert, der einst in der Wieningerstraße 10 lebte und 1933 in die euphemistisch bezeichnete „Schutzhaft“ in Dachau kam, bevor er nach Buchenwald deportiert und 1940 schließlich in Mauthhausen ermordet wurde. Dieses Detail sieht man, wenn man den Kopf senkt.
Hebt man das Haupt jedoch, fällt der Blick auf architektonische Besonderheiten: Dies ist die Straße der sonderbaren Fenster. Gleich bei der Einmündung lässt ein zweigeschossiges schmales Fenster erstaunliche Mengen Licht in ein Wohnhaus fallen, wie man es nur selten sieht. Neben dem Längsriegel tut sich ein weiteres Kleinod auf; kachelgroße Miniatursprossen reihen sich über einem Schaufenster mit Schmuckauslage übereinander, sodass man sich fragt, wer wohl vor langer Zeit die Idee zu dieser mühsamen Installation hatte, deren Nutzen sich über die ästhetische Freude an der Parzellierung hinaus nicht wirklich erschließt. Man bräuchte jedenfalls viel Zeit und einen wirklich sehr kleinen Gummiabzieher, um all diese Fensterchen zu putzen.
Ihren staunenswerten Höhepunkt findet die Straße der sonderbaren Fenster jedoch gegenüber dem Geschäft „Kerzenfräulein“, in einem Haus mit tannengrün gestrichenen Holzfensterläden. Hier befindet sich zwischen Haustür und gardinenverhangenem Fenster ein in die Außenmauer getriebener Schacht, der das wohl kleinste Fensterchen der Altstadt beherbergt. Wozu dient es? Als Katzentür? Als Geheimversteck? Als Klopfstation zum in bayerischer Mundart bekanntem Fensterln? Oder als wetterfeste Aufbewahrungslösung für Tageszeitungen innerhalb des Mauerwerks? Gestern nun erschloss sich das Rätsel: Da hatte jemand eine Bäckertüte mit frischem Brot in den Schacht bis zum klitzekleinen Fensterchen geschoben. Es scheint also wirklich das zu sein, was man tagein tagaus vermutete: ein Fenster in eine bessere Welt.