Geschichte:Wenn Angst das Leben bestimmt

Beim Gedenken an die Pogromnacht von 1938 zeigt der KZ-Überlebende Ernst Grube Gemeinsamkeiten mit den Schicksalen der Flüchtlinge von heute auf.

Von Viktoria Großmann, Dachau

Es dauert nicht lange, bis Ernst Grube auf die Situation der Flüchtlinge heute zu sprechen kommt. Ernst Grube, der im Dezember 83 Jahre alt wird, spricht zum Gedenken an die Pogromnacht vom 9. auf 10. November 1938 in der evangelischen Versöhnungskirche in Dachau über seine Erinnerungen und über die Angst, die Verfolgte heute und damals eint.

Grube war noch keine sechs Jahre alt, als die Nationalsozialisten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 jüdische Gotteshäuser, Geschäfte und Schulen verwüsteten. Die Synagoge in der Herzog-Max-Straße in München, in der die Familie lebte, war schon Monate zuvor zerstört worden. Als Grube zwölf war, wurde die Familie in das KZ Theresienstadt nahe Prag deportiert, im Februar 1945. Das prägende Gefühl war Angst, sagt Grube. Seine drei Tanten waren in verschiedene Ghettos deportiert, Kinderfreunde verschleppt worden, seine Mutter musste Zwangsarbeit leisten. "Heute", sagt Grube, "kommen die Menschen zu uns und sind froh, wenn sie bei uns sind." Gemeinsam zu Hunderten untergebracht zu werden, sei im Deutschland von heute "eine Situation es Lebens". Gemeinsam aber, sagt Grube, sei den Menschen die Angst, die ihr Leben bestimme. Die Ungewissheit, die Sorge um die Zukunft, die Sorge um das Zuhause, um die Familie. "Angst, wenn sie die hasserfüllten Gesichter derer sehen, die gegen Flüchtlingsheime demonstrieren." Angst aber auch vor einem Abschiebungsbescheid und vor dem, was sie in der alten Heimat erwartet. Grube nimmt explizit Bezug auf das Schicksal eines kosovarischen Familienvaters, der zur Zeit mit seiner Frau und drei Kindern im Landkreis Dachau lebt. Im Kosovo drohen Mitglieder des IS ihn, seinen 16-jährigen Sohn oder beide in den Krieg zu zwingen.

"Erinnern und Gegenwart, das gehört zusammen", sagt Grube und leitet damit über zu der Ausstellung "Erinnerte Gegenwart", die am Sonntag in der Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte eröffnet wurde. Die Münchner Künstlerin Marlies Poss, Jahrgang 1944, nimmt Bezug auf das Schicksal ihrer Großtante Berthie Philipp, sowie auf das der Familie Grube und das von Robert Mühlstein. Er ist der Vater des Vorsitzenden der liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München, Jan Mühlstein. Sie alle waren für einige Zeit in Theresienstadt inhaftiert. Das Lager in der ehemaligen Garnisons- und Festungsstadt der Habsburger diente den Nationalsozialisten als Vorzeigelager. Es gelang der SS 1944 gar, ein Komitee des Internationalen Roten Kreuzes zu täuschen. Vor dem Besuch waren mehrere tausend Menschen nach Auschwitz deportiert worden, denn in Theresienstadt herrschten wegen Überfüllung schreckliche Zustände. Zudem wurde der Eindruck erweckt, es gebe Kulturveranstaltungen für die Häftlinge. "Als wir ankamen", sagte Ernst Grube, "gab es keine Musik mehr, keine Lesung. Nur Angst."

Marlies Poss kennt das nur aus den Erinnerungen ihrer Großtante, die zum großen Teil in einem Karton steckten. Die Mutter von Marlies Poss hat ihr diese Kiste eines Tages gegeben. Darin Postkarten, die nie abgeschickt wurden. Immer wieder waren sie von der Lagerleitung zurückgewiesen worden, weil Berthie Philipp zu viele Sätze auf die rechteckigen Pappen quetschen wollte. Viel wusste Poss bis zur Entdeckung dieses Nachlasses nicht von der Geschichte ihrer Angehörigen. Die Geschichte sei verdrängt worden oder nicht offenbart, so wie in vielen Familien von Opfern der Nationalsozialisten. Marlies Poss' kleine, zarte Werke aus zerbrechlichen, vergänglichen Materialien machen den ersten, beinahe naiven oder kindlichen Eindruck und Schrecken vor dieser Familiengeschichte spürbar. In einem schmalen Holzregal stehen aus Blei gegossene Schuhe, nur groß genug für Puppenfüße. In ihnen steckt die Erinnerung an die zu Bergen aufgetürmten Schuhe der Ermordeten in den Konzentrationslagern genauso wie die Erinnerung an Todesmärsche, an Auswanderung oder an Menschen, die verloren gingen und deren Schicksal nicht bekannt ist. Auf eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen, sagt Poss, geht eine Installation mit bunten Papierratten zurück. Die Großtante hatte dem kleinen Mädchen offenbar erzählt, wie die geschwächten Menschen in den Latrinen des überfüllten Lagers von Ratten angefallen wurden.

Am internationalen Mahnmal und vor dem ehemaligen Krematorium gedachte die Jugend des deutschen Gewerkschaftsbundes DGB in Bayern der Pogromnacht vor 77 Jahren. Der Bundesjugendsekretär des DGB, Florian Haggenmiller, nutzte die Gelegenheit, um zum Widerstand gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus aufzurufen. "Keine Veranstaltung von NPD, Pegida oder AfD darf ohne massive Gegendemo stattfinden", sagte er. Die DGB-Jugend erinnerte an einige Schicksale von Häftlingen in Dachau wie das des Hitler-Attentäters Georg Elser und des KPD-Mitglieds und Gewerkschafters Franz Stenzer, der bereits im August 1933 von den Nazis im KZ Dachau ermordet wurde. Die Stadt Dachau gedachte mit einer Gedenkfeier im Rathausfoyer der Pogromnacht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: