Süddeutsche Zeitung

Dachau:Die Ehrliche

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Die Versöhnungskirche erinnert mit einem Gedenkgottesdienst an Sophie Scholl. Schülerinnen und eine Studentin lesen aus Briefen der Widerstandskämpferin vor. Es entsteht das private Porträt einer aufrichtigen jungen Frau.

Von Katja Gerland, Dachau

Um kurz vor 12 Uhr an diesem Sonntagvormittag stimmen eine Violine und ein Klavier das Forellenquintett von Franz Schubert an. Menschen lauschen still, während sie mit Abstand auf Stühlen in der evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte in Dachau sitzen. Für Sophie Scholl hatte das Forellenquintett eine besondere Bedeutung. Sie hörte es zu ihren Münchner Studienzeiten auf einem Grammophon, das belegen Briefe an ihre Freundin Lisa Remppis. In einem davon schrieb Scholl: "Man kann ja nicht anders, als sich freuen und lachen."

Sophie Scholl, die Widerstandskämpferin der Weiße Rose, hätte an diesem 9. Mai 2021 ihren 100. Geburtstag gefeiert. Tatsächlich wurde sie nicht einmal 22 Jahre alt. Am 18. Februar 1943 warf sie gemeinsam mit ihrem Bruder Hans Scholl Flugblätter im Lichtsaal der Münchner Universität ab, um gegen das NS-Regime zu protestieren. An diesem Tag nahmen die Nazis die Geschwister sowie wenig später ein weiteres Mitglied der Weißen Rose, Christoph Probst, fest. Die NS-Justiz verurteilte die drei Widerstandskämpfer am 22. Februar 1943 zum Tode, am gleichen Tag wurden sie hingerichtet.

"Sophie war eine junge Frau mit eigenen Irrwegen, Sorgen und Ängsten"

Jetzt, mehr als 78 Jahre später, steht Björn Mensing am Altar in der Versöhnungskirche. 51 Besucher sind gekommen, um an Sophie Scholl zu gedenken, darunter auch die 101-jährige Zeitzeugin Eva Hönigschmid, die Christoph Probst und den wenig später ebenfalls von der NS-Justiz ermordeten Alexander Schmorell während ihres Studiums kennenlernte. Viele weitere verfolgen den Gedenkgottesdienst per Livestream von zuhause aus. Das Todesurteil der Nazis sei eine "Farce" gewesen, sagt Mensing. Es habe schließlich schon vorher festgestanden. Doch zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl wolle er "auch an das denken, was ihr Freude gemacht hat, womit sie auch anderen Freude machte", sagt Mensing.

Zwei Schülerinnen des Münchner Sophie-Scholl-Gymnasiums, Hannah Schleich und Mona Wild, sowie Studentin Theresa Braun gestalten den Gottesdienst an diesem Sonntag. Sie lesen Briefe Sophie Scholls an Freunde, Geschwister und ihren Verlobten vor. "Sophie war eine junge Frau mit eigenen Irrwegen, Sorgen und Ängsten", sagt Theresa Braun, "es ist wichtig, all diese Schattierungen zu nennen". Die Briefe zeigen das Porträt einer jungen Frau, die nicht nur von verschiedenen Gemütern, sondern auch von einer unbestechlichen Ehrlichkeit geprägt war. Mona Wild liest aus einem Brief von Sophie Scholl an ihren damaligen Freund Fritz Hartnagel aus dem Jahr 1938 vor, in dem Scholl die Beziehung zu ihm beendete: "Ich will mir mal einen Ruck geben und ehrlich zu dir sein, denn das bin ich dir schuldig. In dem Verhältnis, in dem ich zu dir stehe, kann ich nicht weiter bleiben." Die letzte Briefzeile gebe jedoch einen Ausblick auf die dennoch weiter andauernde Beziehung zu Hartnagel, erzählt Mensing. Mit den Worten "du sollst aber trotzdem noch zu mir kommen und ich zu dir", schließt der Brief. "Es wurde dann doch wieder intensiver zwischen den Beiden. Ein Auf und Ab in dieser ersten jungen Liebe", sagt Mensing, die Zuhörer schmunzeln.

Freilich thematisiert der Gottesdienst auch, dass Sophie Scholl, die BDM-Gruppenleiterin in Ulm war, die NS-Verbrechen verurteilte. Das hatte auch mit ihrem christlichen Glauben zu tun. Wild liest aus einem Brief an Fritz Hartnagel aus dem Jahr 1939 vor: "Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden, von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und ich finde es entsetzlich. Sagt nicht, es ist fürs Vaterland."

Während die jungen Frauen die Briefe vorlesen, untermalt Musik die verschiedenen Stimmungen. Eine Vertonung von "Der Wanderer an den Mond" von Franz Schubert erklingt als Klavierstück. Sophie Scholl erfreute sich in einem Brief an ihren Bruder Werner am 10.Februar 1943 am Vorfrühlingswetter und erzählte ihm von Schuberts Vertonung: "Das klingt wunderbar frei und so rein. Nicht der leiseste Schimmer irgendeiner Disharmonie", liest Theresa Braun vor.

"Jana aus Kassel hat von zwei Dingen keine Ahnung: totalitäre Regime und Sophie Scholl"

Zu ihrem 100. Geburtstag hätte Sophie Scholl wohl Freude an dem sonnigen Tag gehabt, an dem auch Sebastian Probst, Enkel des ermordeten Christoph Probst, an dem Gedenkgottesdienstes teilnimmt. Ebenso lauscht Stephan Weiß den vorgelesenen Briefen. Er ist Enkel des Philosophieprofessors Kurt Huber, der als Mitglied der Weißen Rose einige Monate nach den Geschwistern Scholl und Christoph Probst zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. "Ich finde es interessant, dass die junge Generation sich darum kümmert", erzählt Weiß der SZ im Vorfeld des Gottesdienstes. Er begrüße die Aufmerksamkeit, die Sophie Scholl zuteil wird, schließlich sei sie "für junge Menschen ein großes Vorbild". Auch Sebastian Probst schildert in einem Gespräch mit der SZ, dass Scholl "unbedingt ein Vorbild" sei, jedoch würde er sich wünschen, dass alle Mitglieder der Weißen Rose, darunter auch sein Großvater Christoph Probst, eine ähnliche Bekanntheit in der Gesellschaft finden. In einer Sache sind sich die beiden Nachfahren der Widerstandskämpfer jedoch einig: Das Schicksal der Widerstandskämpfer um Scholl dürfe nicht instrumentalisiert werden. "Jana aus Kassel", die sich als Teilnehmerin auf einer Querdenker-Demonstration mit Sophie Scholl verglich, sei deshalb schlichtweg "peinlich", so Probst. "Ganz große Empörung" empfinde auch Weiß bei diesem Thema.

Im Gottesdienst ist "Der Wanderer an den Mond" nun abgeklungen, Theresa Braun tritt erneut auf die Bühne. Die Studentin findet klare Worte für Querdenker, die Sophie Scholl für ihre Zwecke vereinnahmen: "Jana aus Kassel hat von zwei Dingen keine Ahnung: totalitäre Regime und Sophie Scholl." Braun sagt, sie könne sich nicht mit Scholl identifizieren, das sei "anmaßend und fehl am Platz", schließlich lebe sie heute "frei und selbstbestimmt". Mit einem Blick in die Zukunft schließt sie ihre Rede ab: Um Scholls Ideale unverfälscht weiter zu tragen, solle von nun an zu ihrem "allseits präsenten Namen ein lebendiges Bild im Kopf" erscheinen. Mit den kraftvoll vorgetragenen Briefen aus Sophie Scholls Lebzeiten haben die jungen Frauen um Theresa Braun am 100. Geburtstag der Widerstandskämpferin ein Stück weit dazu beigetragen.

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Quelle:
SZ vom 10.05.2021
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