Erinnerungskultur:Musik als Mittel gegen die Relativierung

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Wie der Chor singt auch Sopranistin Flore van Meerssche mit Können und Hingabe. (Foto: Toni Heigl)

Unter der Leitung von Clayton Bowman singt der Klassik Chor München „Annelies“, eine Chor-Adaptation von „Das Tagebuch der Anne Frank“, in der Versöhnungskirche. Es ist ein bewegendes wie ermutigendes Konzert.

Von Dorothea Friedrich, Dachau

Der Klassik Chor München wollte ein Zeichen setzen. Eines, „das in Zeiten von Rechtsruck, vieler neuer Ausbrüche von Antisemitismus und einer nicht nachvollziehbaren Relativierung und sogar Leugnung der NS-Vergangenheit enorm wichtig ist“, schreibt der Chor im Programmheft zu „Annelies“. Genau das haben Sängerinnen und Sänger am Mittwoch in der Dachauer Versöhnungskirche erreicht.

Denn „Annelies“ ist der vollständige Vorname von Anne Frank und der Titel eines Chorwerks des britischen Komponisten James Whitbourn (1963-2024) mit dem Libretto von Melanie Challenger. Anne Franks Tagebuch, das ihr Vater Otto Frank bereits 1946 erstmals veröffentlichte, zählt zu den eindrücklichsten Dokumenten wider Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ebenso aufrüttelnd sind die Botschaften jüdischer Überlebender des KZ Dachau sowie Lieder und Gedichte von Kindern aus dem KZ Theresienstadt.

Mi dem Konzert will der Klassik Chor München ein Zeichen setzen. (Foto: Toni Heigl)
Schauspieler Daniel Holzberg spricht leise und beherrscht und gerade deshalb umso wirkungsvoller. (Foto: Toni Heigl)

Schauspieler Daniel Holzberg sprach sie am Mittwoch ohne jedes Pathos, leise, beherrscht und gerade deshalb umso wirkungsvoller. „Wir weigerten uns, uns von unserer schrecklichen Vergangenheit beherrschen zu lassen“, hieß es sinngemäß auf einer Befreiungsfeier Anfang der 2020er-Jahre. Wie schrecklich muss es sein, sich 2024 wieder „Hass, Mobbing und Antisemitismus“ ausgesetzt zu sehen? Wo bleibt der gegenseitige Respekt, „der Schlüssel zum Überleben der Menschheit?“ Fast hätte man schon bei diesen Aussagen von Überlebenden der Shoah angesichts der Bedrohungen von Freiheit und Demokratie verzweifeln können. Doch da ist ja noch Anne Frank, die als 13-Jährige begann, Tagebuch zu führen, sich mit ihrer Familie zwei Jahre lang vor den Nazi-Schergen verstecken musste und als 15-Jährige im KZ Bergen-Belsen starb.

Librettistin Challenger hat aus dem Tagebuch – von dem es bekanntlich etliche Überarbeitungen und unzählige Adaptionen gibt – ganz bewusst „spirituelle Texte“ ausgewählt, wie Komponist Whitbourn im Booklet zur CD dieses Werks schreibt. Das ist ein wenig schade, denn gerade Annes haarscharfe Beobachtungsgabe, ihre Selbstreflexionen, aber auch die Beschreibung von Alltagsproblemen im Amsterdamer Hinterhausversteck und ihre aufkeimenden Gefühle für Peter van Pels könnten Jugendliche die Schrecken des Naziterrors unmittelbarer, persönlicher, nachvollziehbarer machen.

Musik als universelle Sprache

Doch auch so hat dieses fein ausdifferenzierte Stück britischer Chormusik weit mehr als nur musikalische Qualitäten. Unter der Leitung von Clayton Bowman sang der Chor mit Können und Hingabe, was auch auf Sopranistin Flore van Meerssche zutrifft. Die von Whitbourn selbst eingerichtete kammermusikalische Besetzung war mit M. Orhan Ahiskal (Geige), Carolin Langenwalder (Klarinette) Paul Rah (Cello) und Rebeka Stojkoska (Klavier) ein echter Glücksfall. Das Quartett hatte „Annelies“ dermaßen verinnerlicht, dass man getrost auf den Blick ins Programmheft verzichten konnte. Hier stimmte das viel zitierte „Kraft der Musik und ihre universale Sprache“ vom ersten bis zum letzten Ton.

Whitbourn hat „Annelies“ in Rückblenden und mit Zeitsprüngen wie ein Seelengemälde der jungen Anne gestaltet, macht ihre Ängste, ihre Hoffnungen, ihre tiefe Verzweiflung und ihre immer wieder aufscheinende Zuversicht erlebbar. „Allein“ fühlt sie sich im Hinterhaus an der Prinsengracht 263, wo sie sich mit ihren Eltern, ihrer Schwester Margot, dem Ehepaar van Pels, deren Sohn Peter und mit Fritz Pfeffer verstecken kann – betreut von sechs mutigen Helferinnen und Helfern. „Wir sind Juden in Ketten“ schreibt sie am 11. April 1944 in ihr Tagebuch.

Der Klassik Chor macht daraus keinen opernhaften Gefangenenchor, eher ein althebräisches Klagelied. Am gleichen Tag ist zu lesen: „Eines Tages wird dieser schreckliche Krieg vorbei sein, und wir werden wieder Menschen sein, nicht nur Juden“. Da ist kein Jubilieren bei Chor und Sopranistin zu spüren, eher eine melancholisch eingefärbte Erwartung.

Das Konzert geht unter die Haut

Immer wieder bricht sich die Angst vor der Entdeckung Bahn. „Westerbork, Westerbork“, schreit ein schreckensstarrer Chor. Das Übergangslager Westerbork, in das die Familie nach ihrer Verhaftung gebracht worden war, wird zum personifizierten Grauen. Das geht unter die Haut, wie so viele Szenen dieses Werks, das auch überirdisch schön sein kann, wie etwa in „Kyrie – Sinfonia“. Sie erzählt allen Schrecken, allen Zerstörungen der Außenwelt und allen Bedrohungen zum Trotz mit ihrer erhabenen Musik von einem ungebrochenen Gottvertrauen.

Es sind diese meditativen Momente, die „Annelies“ auch zu einem nachdenklich stimmenden, ermutigenden Stück machen. Die ungeheuerlichen Verbrechen der Nazi-Zeit und die immer dreister werdenden Angriffe der rechtsradikalen Szene relativieren sich dadurch nicht. Das ist an diesem Ort, der so unfassbares Leid und so unvorstellbare Grausamkeiten gesehen hat, auch gar möglich.

Aber Klassik Chor, Solistin und Instrumentalisten lassen für einen Moment innehalten, schenken ein wenig Ruhe und Zeit zum Nachdenken, was ohne Hektik, aber wohlüberlegt und wirkungsvoll zu tun ist, damit „Nie wieder“ nicht irgendwann zu einer Worthülse verkommt.

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