Zum Welt-Roma-Tag:"Wir wollen Gerechtigkeit!"

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Von links: Radoslav Ganev, Alfred Ullrich, Erich Schneeberger und Uta Horstmann beim Podiumsgespräch zum Welt-Roma-Tag in der Dachauer Versöhnungskirche. (Foto: Toni Heigl)

Die Evangelische Versöhnungskirche ermöglichte 1980 Bürgerrechtsaktivisten der Sinti und Roma einen Hungerstreik. Damals kam ein Stein ins Rollen. 42 Jahre später wird an die erfolgreiche Aktion erinnert, aber noch immer wird die Minderheit diskriminiert und ausgegrenzt.

Von Helmut Zeller, Dachau

Erich Schneeberger, 71, erhebt seine Stimme, als er am Sonntag die zentrale politische Forderung in der Evangelischen Versöhnungskirche Dachau zum Welt Roma-Tag formuliert: "Wir wollen Gerechtigkeit für unsere Minderheit!" Der Vorsitzende des bayerischen Landesverbands deutscher Sinti und Roma weiß, wovon er spricht. Fast alle seine Familienmitglieder wurden im Nationalsozialismus ermordet, eine halbe Million fiel dem Völkermord zum Opfer, seine Eltern überlebten schwer erkrankt das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, und nach 1945 wurden Sinti und Roma in Deutschland weiter diskriminiert und ausgegrenzt - bis heute. Schneeberger sind Bedrückung und Zorn anzumerken, als er darüber spricht, wie Roma heute, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten, ausgesondert würden. Man verweigere ihnen simpelste Dinge wie Nahrung. "Gerade Deutschland hat die Verpflichtung, auch den Roma aus der Ukraine zu helfen." Pfarrer Björn Mensing stimmt ihm zu und ergänzt: "Tausende Roma wurden im Zweiten Weltkrieg an 140 Orten in der Ukraine von Einsatzkommandos und Soldaten bei Massenerschießungen ermordet."

"Wir können stolz auf unseren Erfolg sein"

Es ist eine denkwürdige Veranstaltung im Gesprächsraum der Kirche in der KZ-Gedenkstätte, in dem vor 42 Jahren, im April 1980, elf deutsche Sinti, darunter KZ-Überlebende, in einen einwöchigen Hungerstreik traten, um die Anerkennung der Naziverbrechen an ihrer Minderheit als Völkermord zu erzwingen. Auch die Aktivisten um Romani Rose, heute Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, forderten Gerechtigkeit. Mit dabei war damals die Münchner Sozialarbeiterin Uta Horstmann, die jetzt auf dem Podium sitzt und erzählt. "Wir hätten uns damals nicht vorstellen können, dass wir heute stolz sein würden. Der Hungerstreik hat einen Stein ins Rollen gebracht, der noch weiter rollt." 1982 wurde der Zentralrat gegründet und der Völkermord von der Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) anerkannt. Die Welt sah - abermals - auf Dachau: Von überall kamen Solidaritätstelegramme, die Nachrichtensendungen berichteten fortlaufend - und die bayerische Staatsregierung geriet zunehmend unter Druck. Es ging noch um eine andere Forderung: Die sogenannten rassenwissenschaftliche "Gutachten" aus der NS-Zeit, die angeblich vernichtet worden waren, wurden von Polizei und Gerichten noch immer verwendet, bei Gerichtsurteilen wurde sogar aus ihnen zitiert. "Die Akten haben wir bis heute nicht", sagt Schneeberger. Kirchenrat Mensing sagt, sie würden im Bundesarchiv lagern. Da hat Schneeberger so seine Zweifel. "Ich habe kein großes Vertrauen in die Politik."

Ernüchternde Bilanz des Staatsvertrages

Schneeberger, Vertreter von Romani Rose im Zentralrat, gelang 2018 ein großer Schritt. Er unterzeichnete mit dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) einen Staatsvertrag, in dem der Freistaat Bayern sich verpflichtete, gegen die Diskriminierung von Sinti und Roma vorzugehen. Der deutsche Sinto zieht eine ernüchternde Bilanz: So gebe es in der Polizei Beamte, die Sinti und Roma mit übelster Verleumdung überziehen würden; dabei seien doch gerade Behörden laut Staatsvertrag aufgefordert, gegen die Diskriminierung der Minderheit vorzugehen. Auch mit der Aufklärung junger Beamter scheint es Probleme zu geben. Zwar würden sie, so Schneeberger, die Ressentiments verstehen, verlören jedoch "ruckzuck" alle guten Vorsätze, wenn sie mit älteren Kollegen auf Streife unterwegs seien. Auch Medien und Presse, so Schneeberger, würden Vorurteile unreflektiert transportieren. Antiziganismus ist in der deutschen Mehrheitsgesellschaft tief verwurzelt: Mehr als 55 Prozent wollen laut Umfragen keine Sinti und Roma in ihrer Nachbarschaft dulden, eben so viele meinen, sie neigten der Kriminalität zu. Jetzt steht die Verlängerung des Staatsvertrages an. Schneeberger wird auch, unter anderem mit dem bayerischen Antisemitismus-Beauftragten, Ludwig Spaenle (CSU), Gespräche über die Berufung eines Antiziganismus-Beauftragten in Bayern führen, entsprechend dem Bundesbeauftragten, der im März dieses Jahres sein Amt angetreten hat. Angeblich will Spaenle diese Funktion selbst übernehmen. Es wurden aber auch Stimmen laut, ob nicht besser ein Angehöriger von Sinti und Roma berufen werden sollte.

Musikalisch umrahmt wird die Veranstaltung vom Jazz-Trio aus Elias Prinz, Ida Koch und Bobby Guttenberger. (Foto: Toni Heigl)

Der Stein rollt weiter. Was Schneeberger nicht ahnte: Unter den Gästen waren der Landtagsabgeordnete Bernhard Seidenath (CSU), Vizelandrätin Marianne Klaffki (SPD), Luise Krispenz, Dachaus Dritte Bürgermeisterin, und Richard Seidl, Zeitgeschichtsreferent der Stadt Dachau (beide Grüne). Und Gabriele Triebel (Grüne), Mitglied im Bildungsausschuss des Bayerischen Landtags und Fraktionssprecherin für Bildung, Religion/Weltanschauung und Erinnerungskultur. Sie sagte der SZ, sie nehme sehr viel aus dieser Veranstaltung mit. Ihre Fraktion werde den Landesverband der Sinti und Roma bei der Verlängerung des Staatsvertrages unterstützen, auch bei der Berufung eines Antiziganismus-Beauftragten. "Es ist viel erreicht worden, aber viel ist auch noch zu tun, um den Sinti und Roma Gerechtigkeit widerfahren zu lassen."

Die Mehrheitsgesellschaft hat die Vergangenheit nie richtig aufgearbeitet

Wie viel noch zu tun ist, das macht Radoslav Ganev auf dem Podium deutlich. Der Politologe hat den Studierendenverband der Sinti und Roma in Deutschland und den Münchner Verein RomAnity gegründet. Junge Sinti und Roma verstecken sich, weil sie um ihr Studium oder ihren Job fürchteten. Die Mehrheitsgesellschaft habe ihre Vergangenheit nie wirklich aufgearbeitet, sie grenze weiter die Minderheit aus und würdige sie herab. Es sei, so Ganev mit Blick auf den Hungerstreik der Bürgerrechtsbewegung , zwar wunderbar, was die ältere Generation erreicht habe, aber es stimme ihn auch traurig, dass man 40 Jahre später noch immer die gleichen Gefechte bestreiten müsse. Der Dachauer Künstler Alfred Ullrich, der aus einer österreichischen Sinti-Familie stammt, rückte die Perspektive zurecht: Wenn die Mehrheitsgesellschaft Sinti und Roma ihre Würde absprechen, dann müsse sie sich fragen, wo ihre eigene Würde bleibe.

Kirchenrat Björn Mensing beim Gottesdienst. (Foto: Toni Heigl)

Im vorausgehenden Gottesdienst, den Pastoralreferentin Judith Einsiedel und Kirchenrat Mensing gestalteten, wurde namentlich dreier Opfer gedacht: Rudolf Endress, Onkel von Alfred Ullrich, der Dachau und viele andere Lager überlebte, Jakob Bamberger, der am Hungerstreik 1980 teilgenommen hatte - und wie so viele früh an den Folgen der KZ-Haft starb. Allein ins KZ Dachau waren 2300 Sinti und Roma verschleppt worden. Und Mercedes Kierpacz, deutsche Romni mit polnischen Wurzeln und Mutter von zwei Kindern, die im Februar 2020 von einem rechtsextremen Attentäter in Hanau im Alter von 35 Jahren ermordet wurde. Es hört nicht auf - und deshalb wird der Ruf nach Gerechtigkeit nicht verstummen.

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