Dachauer Traumaforscher:Neues Buch ist politisch brisant

Dachauer Traumaforscher: Buchautor Jürgen Müller-Hohagen hat schon mehrer Bücher zu dem Thema publiziert.

Buchautor Jürgen Müller-Hohagen hat schon mehrer Bücher zu dem Thema publiziert.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Mit viel Empathie analysieren Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen wie der Shoah, auch auf die Kinder und Enkel. Das hat Konsequenzen auch für die heutige Gesellschaft.

Von Helmut Zeller, Dachau

Am Mittagstisch erklärt der neunjährige Michael seinem überraschten Urgroßvater Abba Naor, einem Überlebenden der Shoah, er werde, wenn er groß sei, eine Uhr erfinden, die rückwärts läuft. Aber warum? Damit, sagt der Junge, du wie in einer Zeitmaschine zurückreisen und mit deiner Mutter und deinen Brüdern wieder zusammen sein kannst. Sie waren im Holocaust ermordet worden - noch Jahrzehnte später ist für Abba Naor der Schmerz darüber allgegenwärtig.

Auch Momik, kindlicher Protagonist im Roman "Stichwort: Liebe" des israelischen Autors David Grossman, möchte herausfinden, was seine Eltern so belastet und seinen Großvater verstummen ließ. Die Angst ist allgegenwärtig, und Momik erkennt, dass sie von einer "Nazi-Bestie" verursacht wird. Der Junge macht sich auf der Suche nach ihr, um sie zu zähmen und so seine Familie zu retten.

Traumata werden an die nächsten Generationen weitergegeben

Psychologen sprechen von einer transgenerationellen Weitergabe erfahrener Traumata an die Nachkommen selbst noch der dritten Generation. Die Dachauer Traumaforscher Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen beschäftigen sich mit den seelischen Nachwirkungen von Traumata seit langem, gerade auch mit ihrer Weitergabe in den Familien ehemaliger NS-Verfolgter und auf der Seite der Täter. In ihrem neuen Buch "Dialog statt Trauma" zeichnet das Autorenpaar aus der Beschreibung und Analyse der Traumata einzelner Menschen, denen sie in ihrer jahrzehntelangen therapeutischen Arbeit begegnet sind, nichts weniger als eine Ansicht des Innenlebens unserer Republik.

Eine Grundlage für einen gesellschaftlichen Diskurs, der in der Corona-Krise aber darüber hinausreichend auf die grundsätzliche und zentrale Frage unserer liberalen und offenen Demokratie und ihre Zukunft abzielt: Wer sind wir und wie wollen wir leben? Der Titel ist Appell und Handlungsanleitung. Nach der Lektüre des wissenschaftlichen, aber in einer wohltuend klaren Sprache geschriebenen Buches jedenfalls ist klar: Die Vergangenheit ist eben auch deshalb nicht vergangen, weil sie in den traumatischen Erfahrungen ganzer Generationen konserviert ist und auf die Gegenwart einwirkt.

Ein Volk von vermeintlichen Opfern

Dachauer Traumaforscher: Ingeborg Müller-Hohagen ist seit 2007 Lehrbeauftragte an der Universität Augsburg für Montessori-Pädagogik.

Ingeborg Müller-Hohagen ist seit 2007 Lehrbeauftragte an der Universität Augsburg für Montessori-Pädagogik.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Schon im Vorwort ihres Buches betont das Autorenpaar einen grundsätzlichen Unterschied im Schweigen von Tätern und Opfern, der immer wieder Gefahr läuft, eingeebnet zu werden: Die Überlebenden des Massenmordes an den europäischen Juden schwiegen häufig, weil sie ihre Familien nicht belasten wollten. Täter, Zuschauer und Profiteure der Shoah hüllten sich in Schweigen, weil die Verbrechen derart monströs waren, sie unmittelbar nach dem Krieg auch eine Bestrafung fürchteten und sie, wie die ganze deutsche Gesellschaft nach 1945, jede Beteiligung und das Wissen über die Shoah und andere Verbrechen leugneten. Bis in die Neunzigerjahre hinein fand die Traumaforschung in Deutschland in der Fachwelt und in der Allgemeinheit kein großes Interesse. Das hat sich geändert - heute ist der Begriff des Traumas in die Alltagssprache eingegangen und wird nahezu inflationär gebraucht. Dabei kommt es vor, dass Menschen sich fälschlicherweise als traumatisiert ausgeben, wie die Autoren schreiben.

Als besonders problematisch sehen sie es an, wenn diese Menschen dahinter eigene Gewalttendenzen verbergen. "Das hat Tradition, besonders in Deutschland. Nach 1945 haben sich ehemalige Täter:innen massenhaft als vermeintliche 'Opfer' deklariert. So etwas kann auch über Generationen hinweg weiterwirken." Tut es auch. Etwa im Post-Shoah-Antisemitismus, gegenwärtig sichtbar in der Covid-19-Pandemie, wenn Demonstranten einen gelben Stern mit der Aufschrift "Ungeimpft" tragen oder Schilder mit dem Schriftzug "Impfen macht frei" in Anlehnung an den zynischen Nazispruch "Arbeit macht frei", der auch am Eingangstor des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau zu finden ist. Sichtbar wird es auch in der Täter-Opfer-Umkehr, wenn dem israelischen Staat Nazimethoden unterstellt werden - oder eine knappe Mehrheit der Deutschen laut Umfragen meint, dass "die Juden" aus der Shoah heute Vorteile ziehen wollten und das schlechte Gewissen der Deutschen ausnutzten.

Der Judenhass war nach 1945 nicht verschwunden, er trat in Wellen immer wieder auf, zurzeit haben, auf die Corona-Pandemie bezogen, antisemitische Verschwörungserzählungen im Netz und auf den Straßen wieder Hochkonjunktur. Dabei führen Worte - das ist bekannt, wird aber von der Politik zu wenig beherzigt - zu Taten, wie 2019 zu dem Angriff eines Rechtsextremisten, der an eine jüdische Weltverschwörung glaubte, auf eine Synagoge in Halle, und zu tagtäglichen Übergriffen auf Jüdinnen und Juden und jüdische Einrichtungen sowie auch zu Straftaten.

"Wir sind das Volk!", rufen die Corona-Demonstranten bei ihren Protestzügen gegen die Corona-Politik in Dachau, die andernorts bereits in Gewaltausbrüchen geendet sind. Vielleicht rufen sie bald: "Wir sind die Opfer!" Denn als Opfer fühlen sich Deutsche nur zu gerne. Nur 17,6 Prozent der Befragten bejahen, dass unter ihren Vorfahren Täter des Zweiten Weltkriegs waren. Ungefähr ebenso viele Personen (18 Prozent) geben an, ihre Vorfahren hätten in dieser Zeit potentiellen Opfern geholfen. Etwas mehr als die Hälfte der Interviewten (54,4 Prozent) berichtet schließlich, unter den Verwandten Opfer des Zweiten Weltkriegs zu haben - so das Ergebnis einer Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Davon handelt das Buch der Müller-Hohagens nicht explizit. Aber die tiefgründige Analyse unserer gesellschaftlichen Verhältnisse regt zum Nachdenken darüber an, ob es nicht, wie Jürgen Müller-Hohagen kurz erwähnt, auch eine Tradierung von "Täterhaftigkeit" geben könnte.

"Mit Bedacht" schreiben sie nicht über Gewalt und ihre Tradierung, erklärt das Autorenpaar. Es geht ihnen um die Folgen von Gewalt bei denen, die sie erleiden mussten. Sie beschäftigen sich mit Menschen in einem Radius von Verfolgten des Naziregimes bis zu heutigen Migranten, Geflüchteten oder Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung ausgegrenzt werden. Die beiden haben allein oder gemeinsam eine Vielzahl gleichermaßen psychologischer wie gesellschaftskritischer Schriften verfasst. Nun beschreiben sie in diesem Werk in einem großen Bogen ihre Erfahrungen aus jahrzehntelanger Berufstätigkeit und reflektieren sie aus der Perspektive von Psychotherapie, Schule und Erinnerungsarbeit.

Ingeborg Müller-Hohagen ist Pädagogin und Dozentin an der Universität Augsburg, ihr Mann ist als Therapeut tätig und Vize des Präsidenten der Lagergemeinschaft Dachau und Shoah-Überlebenden Ernst Grube. Seit ihrem Umzug nach Dachau haben sich die beiden intensiv mit den seelischen Nachwirkungen der nationalsozialistischen Verbrechen auf Opfer sowie Kinder und Enkelkinder von Opfern und Tätern auseinandergesetzt. Das Ehepaar leitet das "Dachau Institut Psychologie & Pädagogik", das es im Jahr 2001 gegründet hat.

Begegnung auf Augenhöhe

Eine der Stärken des Buches liegt darin, dass Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen, wie man das schon aus ihren früheren Publikationen kennt, ihre persönliche Beteiligung nicht aussparen, sich nicht auf einen vermeintlich objektiven Expertenstatus zurückziehen, den es ohnehin nicht gibt, sondern sich selbst reflektierend - einmal gar als Fallbeispiel - in die fachliche Auseinandersetzung mit dem Thema einbringen; das ist nicht nur ehrlich, es zeugt auch von Empathie. Ein Grundsatz ihrer therapeutischen Arbeit lautet denn auch: ihren Klienten auf Augenhöhe zu begegnen. Das ist auch ihrem Text eigen, der sich im Verlaufe der Lektüre wie ein Gespräch mit dem Leser entfaltet. An manchen Stellen fordern sie ihn auch explizit auf, seine Gedanken, Erfahrungen und Kritik mitzuteilen.

Es geht Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen um die Bedeutung traumatischer Erfahrungen für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft. Nebenbei gesagt: Das Buch klärt auch darüber auf, was überhaupt ein Trauma ist, unter welchen Bedingungen Menschen traumatische Erfahrungen machen - und das in einer klaren Übersicht. Fast möchte man sagen, wir sind eine Gesellschaft von Traumatisierten - doch das ist nicht der Punkt. Was das Autorenpaar feststellt: Unserer Gesellschaft ist das Dialogische vielleicht nicht abhanden gekommen, aber es ist massiv beschädigt. Das erinnert an den "Verlust des Mitgefühls", den der verstorbene Psychoanalytiker Arno Gruen diagnostiziert hat, mitsamt den politisch katastrophalen Folgen für unsere Gesellschaft. Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen haben - vordergründig - kein politisches Buch geschrieben, jedoch ist ihre Analyse der Auswirkungen traumatischer Erfahrungen - den Kinder nicht selten als blanken Terror erleben - politisch brisant. Der Dialog, den die Autoren einfordern, braucht Räume zur Entfaltung in Schule, am Arbeitsplatz, in der Familie, im öffentlichen Leben. Der Dialog - auf Augenhöhe - kann ein Trauma nicht auflösen aber er ist die Voraussetzung für einen Umgang damit, der ein menschliches Miteinander in unserer Gesellschaft ermöglicht und fördert.

Jürgen Müller-Hohagen, Ingeborg Müller-Hohagen, Dialog statt Trauma, Verlag Marta Press, 28 Euro.

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