Süddeutsche Zeitung

Plakataktion "Für eine Zeit Dachauer":Snehs zweite Geburt

US-Soldaten befreien einen 17-Jährigen im April 1945 aus einem Häftlingszug am Seeshaupter Bahnhof - diesen Ort besucht er noch als alter Mann jedes Jahr.

Von Thomas Radlmaier, Dachau/Seeshaupt

Louis Sneh ist 17, als er zum zweiten Mal geboren wird. Im übertragenen Sinn. Später nennt er den 30. April 1945 immer wieder seinen "zweiten Geburtstag". Er ist der Tag seiner Befreiung. Ein Montag.

Der Todeszug mit Güter- und Viehwaggons rollt am Abend zuvor am Bahnhof in Seeshaupt ein, einem Dorf am Südufer des Starnberger Sees. Darin kämpfen Häftlinge des Lagerkomplexes Mühldorf, einem Außenlager des KZ Dachau, unter menschenunwürdigen Bedingungen um ihr Leben. Die meisten von ihnen sind Juden. Diejenigen, welche die fünftägige Irrfahrt durch Oberbayern überstanden haben, sind kurz vorm Verhungern. Louis Sneh ist einer von ihnen, er wiegt 39 Kilo.

Louis Sneh war "für eine Zeit Dachauer"

Im Angesicht der anrückenden amerikanischen Armee stoppen die SS-Männer den Zug in Seeshaupt und laufen davon. Der Zugführer koppelt die Lok ab und fährt weg. Als die alliierten Soldaten am nächsten Tag in Seeshaupt eintreffen, kommt die Hilfe für viele zu spät. Tote und Verwundete liegen in den Waggons über einander gestapelt in Blut und Exkrementen. Viele Überlebende leiden unter Flecktyphus und Tuberkulose. 63 Häftlinge sterben noch nach der Befreiung an Unterernährung und Krankheiten.

Louis Sneh kehrt später regelmäßig nach Seeshaupt zurück. Der 93-Jährige wohnt heute in den USA. 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau ist Louis Sneh, der die Lager Auschwitz und Dachau überlebte, in der Dachauer Stadtgesellschaft sichtbar geworden. Sein Porträt ist im November auf Plakaten zu sehen, die in der ganzen Stadt aufgehängt sind. Es ist die Fortsetzung der Plakatreihe "Für eine Zeit Dachauer", die der Förderverein für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit aus Anlass des 75. Jahrestages der Befreiung des KZ am 29. April 1945 startete. Jeden Monat wird jeweils ein Porträt eines ehemaligen KZ-Häftlings in Dachau plakatiert. Insgesamt sind es zwölf Porträts. Im November widmet sich die Reihe Louis Sneh. Auch er war "für eine Zeit Dachauer". Der Förderverein hat seine Biografie recherchiert. Der Filmemacher Walter Steffen hat 2010 die Geschichte des Todeszugs in "Endstation Seeshaupt" Revue passieren lassen. Darin kommt auch Louis Sneh zu Wort.

Sneh wird am 12. Mai 1927 in Vegegyhaza, einem Dorf in Süd-Ungarn, als Lajos Szunyogh geboren. Er wächst in einem traditionellen jüdischen Haushalt auf. Sein Vater ist Kaufmann und reist zu Wochenmärkten in Nachbardörfern, seine Mutter eine Hausfrau. In seinen frühen Teenagerjahren macht er eine Lehre zum Elektriker. Der deutsche Einmarsch in Ungarn im Jahr 1944 beendet die Ausbildung. Mit 16 endet für Louis Sneh die Jugend. Sein Vater wird zu einem ungarischen Armee-Arbeitsbataillon an der ukrainischen Front gebracht, gefangen genommen und stirbt auf einem Todesmarsch. Die Deutschen deportieren Louis Sneh und seine Mutter am 26. Juni 1944 aus dem Ghetto der Stadt Mezőkovácsháza im Süden Ungarns. Sie pferchen die beiden mit rund 100 Gefangenen in einen versiegelten Güterwaggon. Dessen Ziel: Auschwitz.

Als Louis mit seiner Mutter in Auschwitz-Birkenau ankommt, fällt ihm an der Rampe ein uniformierter Mann auf, "der so elegant war" - so berichtet es der Förderverein in einer Pressemitteilung. Später wird Louis Sneh demnach herausfinden, das es der SS-Lagerarzt Josef Mengele war. In Auschwitz muss Louis Sneh mit seiner Mutter an Mengele vorbeigehen. Fatalerweise hilft seine Mutter einer anderen Frau und nimmt ihr Baby auf den Arm - Mengele winkt sie auf die andere Seite. Im Lager fragt Sneh einmal einen Kapo nach seiner Mutter. "Deine Mutter? Da ist sie", habe dieser gesagt und mit seinem Schlagstock auf die Schornsteine des Krematoriums zeigt. "Wir sahen den Rauch aufsteigen und rochen den Gestank, und dann wussten wir, wo wir sind", so wird Sneh in der Mitteilung des Fördervereins unter Berufung auf mehrere Zeitungsartikel zitiert. 440 000 ungarische Juden werden im Sommer 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt, die meisten davon sofort nach der Ankunft vergast.

Vier Wochen später, am 27. Juli, deportieren ihn die Deutschen in das KZ Dachau. Anschließend verschleppen sie ihn in das Außenlager Mühldorf-Mettenheim. Er bekommt die Häftlingsnummer 83 550. Die Deutschen zwingen 8000 jüdischen Gefangene in einem halb unterirdischen Rüstungsbetrieb der Firma Messerschmitt zu schuften. Diese müssen unter anderem Zementsäcke schleppen. Viele überleben die Tortur nicht. Snehs angefangene Elektriker-Lehre rettet ihm vielleicht das Leben. Er wird beauftragt, deutschen Handwerkern zu helfen. Max Mannheimer, ebenfalls Überlebender des KZ Dachau, nannte Sneh scherzhaft den "Elektriker der Petroleumlampen", denn im Dorf aus dem Sneh stammte gab es keine Elektrizität.

Am 14. April 1945 befiehlt Heinrich Himmler, Reichsführer SS, alle Konzentrations- und Vernichtungslager zu evakuieren - kein Häftling soll den Alliierten lebend in die Hände fallen. Die SS schickt am 25. April 1945 circa 4000 Häftlinge aus dem Lager Mettenheim in einem Zug mit rund 70 Waggons in Richtung Süden. Die Deutschen wollen sie in den Alpen verstecken. Der Zug fährt sehr langsam. Es dauert drei Tage, bis er am 28. April erstmals in Poing hält. An diesem Tag kommt es zu einer Widerstandsaktion der "Freiheitsaktion Bayern", im Radio wird zur Niederschlagung des Naziregimes aufgerufen. Daraufhin flüchte die SS-Wachmannschaft und lässt den Zug zurück.

Louis Sneh wandert nach der Befreiung nach Israel aus

Die Häftlinge verlassen langsam die Waggons und suchen nach Essen bei Anwohnern. Nach einigen Stunden wird der Aufstand der "Freiheitsaktion Bayern" aber niedergeschlagen. Die SS kehrt zum Bahnhof in Poing zurück und treibt die Häftlinge erneut mit brutaler Gewalt in die Waggons.

Der Todeszug rollt weiter und wird am Münchner Südbahnhof geteilt. Von dort geht es für Louis Sneh weiter in Richtung Süden. Er hat Angst, er habe immer wieder das Wort "Endlösung" gehört, so der Förderverein. In Beuerberg hält der Zug erneut. Die Häftlinge sollen im dortigen Kloster Essen bekommen. Aber amerikanische Tiefflieger halten den Zug für einen Munitionstransport und beschießen Bahnhof und Menschen. Einige Häftlinge sterben beim Angriff. Sneh hat sich unter den Zug ins Gleis geworfen und überlebt. Nach einem Lokwechsel setz der Zug seine Fahrt Richtung Süden fort. Nach einer fünftägigen Todesfahrt befreien die Amerikaner Sneh und andere Häftlinge am Bahnhof in Seeshaupt.

Zu den Überlebenden des Zuges, der fünf Tage zuvor das Lager Mühldorf-Mettenheim verließ, gehören neben Sneh auch Leslie Schwartz und Max Mannheimer, der im April 2008 auf dem Bernrieder Bahnhofsplatz einen Apfelbaum pflanzt - Symbol für eine friedliche Zukunft und Versöhnung.

Louis Sneh wandert nach der Befreiung nach Israel aus. Dort lernt er seine Frau Dina kennen. Sie ziehen später nach Amerika, wo er heute noch lebt. Seit 1963 besucht er aber jedes Jahr einmal Seeshaupt, um am Bahnhof Fotos zu machen. Der Förderverein schreibt: "Er weiß selbst nicht warum - er erzählt, dass sich das Bild des Bahnhofs in sein Gedächtnis eingebrannt hat. Vielleicht, wie er meint, weil an diesem Ort sein zweiter Geburtstag war."

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Quelle:
SZ vom 11.11.2020
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