Dachauer Theatertage:Requiem für Janusz Korczak

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Pavel Möller-Lück erzählt die Geschichte des polnischen Arztes und Pädagogen als Puppenspiel.

Von Wolfgang Eitler, Dachau

Die Tränen waren keine der Rührung, wie sie im Kino leicht fließen. Sie waren keine Reaktion auf einen Anflug von Sentimentalität, wie er bei pathetisch aufgeladenen Anlässen des Gedenkens und Erinnerns entsteht. Schon gar nicht waren es Tränen des Mitgefühls und der gleichzeitigen Genugtuung, sich in der komfortablen Position des Betrachtes zu befinden - als wollte man sich am kalten Schicksal anderer das eigene Leben erwärmen. An diesem Montagabend im Ludwig-Thoma-Haus in Dachau waren die Tränen Ausdruck tiefer Trauer. Denn Pavel Möller-Lück vom Oldenburger Theater Laboratorium verwandelte die Geschichte des polnischen Arztes und Pädagogen Janusz Korczak, eigentlich Henryk Goldszmit, in ein Requiem für ihn und seine 200 Waisenkinder aus dem Warschauer Ghetto, die im Konzentrationslager Treblinka vermutlich am 5. August 1942 ermordet wurden.

Der Titel der Inszenierung des Lebens, Wirkens und Leidens von Janusz Korczak erfüllte sich an diesem Abend: "Wenn ich wieder klein bin." Die Zuschauer beim zweiten zentralen Beitrag zu den Dachauer Theatertagen 2015 wurden zu eben den Kindern, von denen Pavel Möller-Lück erzählte. Sie wurden auch zu Janusz Korczak und seiner Kinder-Perspektive. Er erlitt als kleiner Bub die bedrohlichen Grundsätze schwarzer Pädagogik einschließlich der Phantasmagorien schlimmer Bestrafung (Hölle, Fegefeuer, Sünde und Verbote).

Pavel Möller-Lück als Erzähler, Schauspieler und Stimmenimitator mit seiner Zeitzeugin, der lebensgroßen Puppe Perla. (Foto: Toni Heigl)

Das Publikum lachte mit den Kindern über die Scherze und Streiche im Waisenhaus, das Korczak mit Spendenmitteln in Warschau errichtet hatte: So wurde der Arzt durch das offiziell installierte Kinder-Gericht bestraft, weil er das Mädchen Perla beim Baden untergetaucht hatte. Das Urteil: "Schuheputzen." Die schlaue Konsequenz: Der Pädagoge gründete die Firma "Ordnung, Glanz und Eleganz" und spannte mehrere Waisenkinder ein. Janusz Korczak gilt heute noch als ein Pädagoge, der seinen Leitsatz vorlebte, der sinngemäß lautet: Man soll nicht über die Kinder reden, sondern mit ihnen. Sie haben das Recht, als Gesprächspartner ernst genommen zu werden. Lehrer und Eltern müssen Kindern die Chance gewähren, ihre Persönlichkeit zu entfalten. Wer unterrichtet und erzieht, sollte sich im Klaren darüber sein, dass er mit seinen Schützlingen "Lebensstunden" verbringt. Dieses Schlüsselwort passt zur Inszenierung.

Der Theaterabend war tatsächlich eine solche Lebensstunde. Dabei waren die Buben und Mädchen bloß als Puppen gegenwärtig. Aber in der Hand des Schauspielers und Regisseurs wurden sie groß und lebendig. Wie das Mädchen Perla, das der Arzt vor den Nazis rettete und das Jahrzehnte später Pavel Möller-Lück die Geschichte aus ihrem eigenen Erleben erzählte. Lebensgroß saß die Figur im Rollstuhl.

Sie garantierte als ältere Frau und Zeitzeugin die Wahrhaftigkeit der dramatischen Erzählung auf drei Ebenen. Pavel Möller-Lück war zunächst der Erzähler, der die Pädagogik des polnischen Arztes nahebringt. Dann lieh er seine Stimme Perla, schließlich dem Arzt und den Kindern. Die Bühne wirkte wie ein imaginärer Setzkasten aus mehreren Koffern, die in der Luft hingen, dazu Utensilien wie ein weißer Kittel oder ein Kasten, der auf dem Boden liegt und sich als antiquarischer Diaprojektor entpuppte. Er warf im Stil von Stummfilmen Textfragmente auf einen der hängenden Koffer. Zuletzt erschienen Fotografien der Waisenkinder, ihre Namen waren aus Lautsprechern zu hören. Damit endete der Theaterabend. Stille. Stehende Ovationen. Pavel Möller-Lück applaudierte: "Es hat mich gefreut, wieder in Dachau gespielt zu haben." Sein Theater Laboratorium aus Oldenburg war in den vergangenen Jahren mehrmals bei den Theatertagen von Frank Striegler und dessen Team aufgetreten. Beispielsweise mit dem Stück "Der kleine Herr Winterstein". Es ist die Geschichte eines sehr erfolgreichen jüdischen Berufsmusikers, der nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten seinen Beruf nicht mehr ausüben darf. Es folgt eine Krise, die ihn auf seine kulturellen, familiären und religiösen Ursprünge zurückführt.

Eine Schlüsselszene: Janusz Korczak überredet Perla sich retten zu lassen und das Ghetto zu verlasen. (Foto: Toni Heigl)

Herr Winterstein ist eine kleine Puppe, die durch die Geschichte an Statur gewinnt und die Botschaft des Nie-Wieders verkörpert. In der Janusz Korczak-Inszenierung gelingt es Pavel Möller-Lück, über die Puppen die Zuschauer direkt in die Kinderperspektive zu versetzen, die sie schließlich überwältigt und die Frage nach der heutigen Pädagogik aufwirft. Deshalb verlassen viele Zuschauer das Ludwig-Thoma-Haus mit der Frage: "Was machen wir mit den Kindern, vor allem mit den Flüchtlingen?" An diesem Abend hätte eines der üblichen realpolitischen Ja-Aber ziemlich befremdlich gewirkt. Eher wünschte man sich Menschen wie Janusz Korczak in der heutigen Zeit.

Die Dachauer Theatertage gehen noch bis einschließlich Freitag, 20. November. Die Aufführungen am Vormittag für Kindertagesstätten und Schulen sind ausverkauft. Karten für öffentliche Veranstaltungen: 0175/ 828 95 56.

© SZ vom 11.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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