Gedenken in Dachau:Die Last der Vergangenheit

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Sabine Bloch liest zum Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome im Ludwig-Thoma-Haus. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Bei der Gedenkfeier für die Opfer der Novemberpogrome erzählt Sabine Bloch mit bewegenden Worten die Geschichte ihres Vaters: Kurt Bloch. Der Dachauer wurde 1938 ins Konzentrationslager gesperrt.

Von Helmut Zeller, Dachau

Als Sabine Bloch mit ihrer Mutter Ende August 1977 von einem Ausflug nach Coburg zurückkehrt, biegt sie von der Autobahn ab und fährt die Alte Römerstraße in Dachau entlang. Beim Anblick der Wachtürme des ehemaligen Konzentrationslagers sinkt ihre Mutter von einer Sekunde auf die andere, ohne einen Laut von sich zu geben, ohnmächtig zusammen und rutscht vom Beifahrersitz. "Alle Ängste haben sie in diesem Moment eingeholt und überwältigt", erklärt Bloch dem Publikum im Ludwig-Thoma-Haus in der Altstadt. Im November und Dezember 1938 war Blochs Vater Kurt, der fünf Jahre zuvor nach Dachau gezogen war, Häftling im KZ Dachau - vier Wochen lang in Todesangst dem Terror der Lager-SS ausgeliefert. Beim Anblick der Wachtürme brach die Erinnerung ihrer Mutter, damals noch Freundin Kurt Blochs, über sie herein. Die Vergangenheit ist nicht vergangen - sie ist Gegenwart.

"Für Sie ist es sicherlich nicht leicht, in einer Stadt zu sprechen, aus der ihr Vater vertrieben worden ist", sagt Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) zu Sabine Bloch zu Beginn der Gedenkfeier für die Opfer der Novemberpogrome zwischen 7. und 13. November 1938. Für die Stadt sei es jedoch ein großes Glück, eine Vertreterin der zweiten Generation an diesem Tag begrüßen zu dürfen. Dachau lädt seit vielen Jahren zu den Gedenkfeierlichkeiten Nachkommen der ehemaligen jüdischen Einwohner ein - der Versuch einer Annäherung, ein Begreifen dessen, was die Dachauer ihren jüdischen Nachbarn angetan haben. In der Nacht auf den 9. November wurden 15 jüdische Frauen und Männer aus der Stadt gejagt.

Allein in das KZ Dachau wurden etwa 11 000 jüdische Männer verschleppt

In der Nacht darauf brannten in Deutschland die Synagogen. Hunderte von Menschen wurden ermordet oder in den Suizid getrieben, mehr als 1400 Synagogen und Betstuben sowie jüdische Friedhöfe zerstört, Tausende Geschäfte und Wohnungen geplündert. Sabine Blochs Mutter schrieb in einem Brief am 10. November von der "furchtbaren Judenhetze in München". Ab dem 10. November wurden ungefähr 30 000 Juden in Konzentrationslagern inhaftiert, von denen Hunderte ermordet wurden oder an den Haftfolgen starben. Die Pogrome markieren den Übergang zur systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre später in den Holocaust an den europäischen Juden mündete.

Allein in das KZ Dachau wurden etwa 11 000 jüdische Männer verschleppt, unter ihnen auch die Dachauer Samuel Gilde und Julius Kohn. Gilde und Kohn und die früheren Dachauer Alice Jaffé, Vera und Hans Neumeyer, Melitta und Max Wallach wurden später in den Vernichtungslagern ermordet. Kurt Bloch, ein gebürtiger Münchner, gelang im Frühjahr 1939 die Flucht nach London. Tochter Sabine, 1948 geboren, erzählt in bewegenden Worten, wie ihr Vater und seine Familie in München unter dem Judenhass und der Verfolgung litten. Blochs Vater Moritz, Inhaber der erfolgreichen Chemischen Fabrik Aubing, durfte ab dem 8. November das Betriebsgelände nicht mehr betreten, später wurde der Aubinger Ehrenbürger, der so viel für das Gemeindewohl getan hatte, zum Verkauf des Unternehmens gezwungen. Am 19. November wurde die Wohnung der Blochs in Schwabing ausgeraubt - Teppiche, Porzellan, Möbel, Kunstgegenstände wurden der Familie genommen. "Der Staat war der Räuber", sagt Sabine Bloch. Aber mehr noch schmerzte Moritz Bloch der Verlust des persönlichen Umgangs mit den Menschen auf Augenhöhe, wie Bloch meint. Die Demütigung, das Ausgestoßensein setzten ihm zu.

Sabine Bloch liest aus einem Brief ihres Vaters vor, in dem er das lähmende Gefühl beschreibt, jederzeit wieder die Schritte von Gestapomännern auf der Treppe in seiner Dachauer Wohnung hören zu können. Moritz Bloch emigrierte 1940 in die USA und starb 1942. Im Londoner Exil verkehrte Kurt Bloch nur unter deutschen Emigranten. "Er bemühte sich, nicht heimisch zu werden", sagt seine Tochter. Einmal las er bei einer Weihnachtsfeier aus einem Buch von Ludwig Thoma (1867-1921) - nach dessen Name das Haus benannt wurde, in dem Bloch an ihren Vater erinnert. Vielleicht gerät der eine oder andere ins Grübeln: Thoma, der lange Zeit in Dachau lebte, hatte in seinen späteren Jahren antisemitische Hetzschriften verfasst.

Kurt Bloch kehrte 1947 nach München zurück und heiratete seine Jugendfreundin. 1961 verunglückte er bei einer Bergwanderung und starb im Alter von 56 Jahren. Dachau hatte er mehrmals wiedergesehen. Er besuchte mit seinem Kind Sabine den Schlossgarten und zeigte ihr den Panoramablick auf München und das dahinter aufragende Gebirgsmassiv der Alpen. Viel erzählte Sabine Bloch von anderen Angehörigen Dachauer Juden, von ihrer Not und Hilfsbereitschaft untereinander - viele Namen, und hinter jedem eine Geschichte, die erzählt werden müsste.

© SZ vom 10.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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