Süddeutsche Zeitung

Kultur in Dachau:Die Baustille

Das Herzstück des Musikheims der Knabenkapelle Dachau ist ein alter Kinosaal mit brillanter Akustik. Für knapp drei Millionen Euro sollte das Gebäude saniert und erweitert werden. Zwei Bauabschnitte sind so gut wie fertig. Doch jetzt geht der Stadt das Geld aus.

Von Gregor Schiegl, Dachau

Das muss man sich ansehen! Tilo Ederer macht eine ausholende Handbewegung. Zwei weiße Blechungetüme hängen im Musikheim der Knabenkapelle, angebracht in einer Höhe von etwa drei Metern, Rohrleitungen verlaufen über die Wand. Könnte eine dadaistische Installation sein. Ist aber die neue Heizung. "Das kann nur eine provisorische Lösung sein", sagt der Vereinsvorsitzende. Zwei Radiatoren, einfach so an die Wand geklatscht, wie sieht das aus! "Unterwürdig!" Diese Wortneuschöpfung muss man sich merken; sie stammt vom Kassier der Knabenkapelle. Aber ein treffenderes Adjektiv für die Zustände im Haus lässt sich kaum finden.

Der traditionsreiche Blasmusikverein, gegründet 1953, hat sich in den vergangenen 68 Jahren radikal modernisiert. Eine Knabenkapelle ist der Verein nur noch dem Namen nach. Unter seinem Dach spielen heute das große Blasorchester, das Nachwuchsorchester, das kleine Ensemble De Dachauer und nicht zu vergessen die Bigband Dachau, innovatives Kraftzentrum mit einer hochenergetischen Fusion von Jazz, Hip-Hop und Techno. Funkelndes Aushängeschild der Stadt. Sympathisch, progressiv. Der Sound der Zukunft.

Das Problem ist, dass die Räume der Knabenkappelle mit diesen bahnbrechenden Entwicklungen nicht Schritt gehalten haben. Im Musikheim scheint die Zeit in den Fünfzigerjahren stehen geblieben zu sein. Nach dem Krieg war der Hauptraum ein Kinosaal, vieles von dem nostalgischen Interieur findet man dort noch heute. Moosgrün schimmernde Faltenvorhänge verhüllen die hohen nackten Ziegelmauern, der Holzboden ist zerkratzt und löchrig, da waren mal Sitze montiert, in denen geknutscht und gelacht wurde; außerdem hat der Saal ein Gefälle, das man nicht sofort sieht, aber spürt. Und hört.

Die Akustik in dieser schiefen Schuhschachtel ist sensationell. Davon kann man sich bei hauseigenen Konzertformaten wie "Jazz³" selbst immer wieder überzeugen. Eines Tages könnten hier auch städtische Veranstaltungen stattfinden. Sofern dieser Bauabschnitt IV im großen Projekt der Knabenkapelle jemals verwirklich wird. Beim Umbau soll die Akustik auf Feinheiten der Blasmusik optimiert werden, aber auch für kleinere klassische Ensembles könnten das ehemalige Lichtspielhaus zu einem fantastischen Konzertort werden. Die geschwungene Holzbühne vor der einstigen Kinoleinwand soll dafür vertieft werden von 3,50 auf 5,0 Meter.

Das ist die schöne, wohlgeordnete Utopie. Die Realität ist ein wüstes Chaos. Auf der Bühne stehen Schlagzeug-Sets und Verstärkerboxen, im Saal verteilt Notenständer, versprengte Stühle, die meisten stapeln sich zu hohen Türmen an der Wand, dazwischen steht eine Klappleiter, ein Verhau von Holzschrankwänden für die Tracht und ausgemusterte Stahlschränke, in denen die Originalnoten lagern, und irgendwo dazwischen kauert ein Kopierer. In der hinteren Wand kann man noch den zugemauerten Durchbruch erkennen, in dem sich früher der Vorführraum befunden hat. Dahinter liegt heute die Wohnung des Hausmeisters.

Es bleibt: unterwürdig

Das ist alles längst Geschichte, vom Winde verweht. Immerhin, das zugige Fenster hat der Verein mittlerweile ersetzt durch ein dreifach isoliertes Schallschutzglas. Ein bisschen was hat sich also doch getan in jüngster Zeit. Aber es geht langsam vorwärts, in kleinen Schritten. Und wie es aussieht, herrscht bis auf weiteres Stillstand. Es bleibt: unterwürdig.

2018 hatte die Stadt dem Antrag der Knabenkapelle stattgegeben, ihr Musikheim zu sanieren und zu erweitern. 2,8 Millionen Euro sollten insgesamt dafür bereitgestellt werden. "Das ist eine hohe Investitionssumme und auch eine große finanzielle Herausforderung für die Stadt", erklärt Kämmerer Thomas Ernst. Deswegen habe man mit der Knabenkapelle vereinbart, für jeden einzelnen Bauabschnitt einen eigenen Zuwendungsbescheid zu erteilen. Zwei Abschnitte sind bereits so gut wie fertig, für den dritten wurden noch die Planungskosten bewilligt. Insgesamt seien seitens der Stadt bisher 1,1 Millionen Euro in das Projekt geflossen, verrät Dachaus Kulturamtsleiter Tobias Schneider. Es ist wirklich nicht so, dass sich bisher nichts getan hätte.

Das alte Gebäude flankieren nun zwei schmale Anbauten, Bauabschnitt I und II: Der kleinere ist gerade mal so groß wie eine Doppelgarage, aber das reicht, um das gröbste Durcheinander aus dem Saal zu bekommen. Man könnte den Raum als Stuhllager verwenden, sagt Tilo Ederer, und sogar zu einem eigenen Backstage-Bereich ausbauen, man müsste nur noch einen Durchbruch durch die Wand schlagen. Im Neubau auf der Westseite befindet sich der Sozialtrakt mit Toiletten, Lager und einem Übungsraum. Der Boden ist gefliest, die Wände geweißelt, es riecht nach Holz und frischer Farbe. Viel Eigenleistung hat die Knabenkappelle in den Bau gesteckt. Geld übrigens auch. Der Eigenanteil des Vereins liegt bei 400 000 Euro bezogen auf die gesamten Baukosten. Auch ein stolzes Sümmchen. Aber auch eine Investition, die sich auf lange Sicht lohnen würde.

Als Eigentümerin von Grund und Immobilie an der Sudetenlandstraße hat die Knabenkapelle ein vitales Interesse daran, die Betriebskosten für den alten Kasten einigermaßen in den Griff zu bekommen. Die Betriebskosten sind gewaltig: Strom, Versicherungen und dann auch noch Heizkosten von 5000 Euro im Jahr. "Das ist abartig", sagt Ederer. Die Nebenkosten summieren sich auf 10 000 Euro jährlich. Von der Stadt bekam die Knabenkapelle jährlich 8500 Euro im Jahr. Auch deshalb wollte die Knabenkapelle bauen.

Beim Umbau setzt der Verein auf ein "ökologisches Grundkonzept", erläutert der Vorsitzende nicht ohne Stolz: ökologische Korkdämmung außen zusätzlich zu der schon bestehenden Wärmeisolierung, Grundwasserwärmepumpe mit hohem Nutzungsgrad, damit könnte man auch wunderbar eine Fußbodenheizung betreiben - und das alles bei gleichem Preis aber dreifacher Nutzfläche. Wenn denn endlich mal weitergebaut werden könnte.

Der Bauabschnitt III ist vielleicht der wichtigste von allen: ein eigenes Musikschulgebäude. Dafür soll der Frontbereich vor dem alten Kinosaal abgerissen werden und ersetzt werden durch ein neues, größeres Gebäude mit zwei Übungsräumen einem Foyer, dem Eingangsbereich und oben im Erdgeschoß mit drei weiteren Übungsräumen. Erst wenn das vollbracht ist, ergäbe es überhaupt Sinn, sich an den Schliff des Kinosaal-Juwels zu machen, dieses versteckte alte Schmuckstück.

Man vergisst leicht, dass die Knabenkapelle Dachau, ebenso wie die Stadtkapelle, auch ein gewaltiger Ausbildungsbetrieb für junge Musiktalente ist. Nur leider ohne eigene Räume. Die Grundschule Dachau Ost stellt ihre Räume zur Verfügung, wenn sie die nicht gerade selber braucht. Aber dann sind es nur wenige Räume, meist viel zu wenige für die etwa 15 Musiklehrer und 100 Schüler und, ja, auch Schülerinnen, klar. Es bleibt nur der alte Kinosaal zum Üben. "Unsere Lehrkräfte haben sich die Türklinke in die Hand gegeben", erzählt Ederer. Unterwürdig.

Und es kommt noch schlimmer: Die Corona-Pandemie stellt nun alles, was man jahrelang ausgetüftelt hat, infrage. Den Kommunen brechen die Einnahmen weg, auch die Stadt Dachau musste eine Notbremsung hinlegen. Kitas muss sie finanzieren, sie muss ihre Leute bezahlen, Straßen und Wasserversorgung in Schuss halten, das Musikheim gilt als "freiwillige Leistung". Freiwillig heißt, brutal gesagt: kann man sich sparen. Und irgendwo muss man den Rotstift ja ansetzen.

"Musikalische Bildung ist aber auch eine kommunale Aufgabe", gibt Tilo Ederer zu bedenken. Bis zu einem gewissen Grad übernimmt die Knabenkapelle diese hoheitliche Funktion, so kann man es auch sehen. Eine städtische Musikschule gibt es bis heute nicht. "Wir haben uns immer als kultureller Treffpunkt und Ort musikalischer Erziehung verstanden", sagt Ederer. "Wir sind auch auf allen Festen in Dachau Ost vertreten." Darin schwingt die Botschaft mit: Wir machen das hier nicht nur für uns, sondern für alle.

Jetzt hängt die Knabenkapelle fest zwischen einer bröckelnden Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft. Wie es weitergeht, "steht in den Sternen", sagt Ederer, die Finanzierung sei völlig unklar, man wisse nicht mal, ob die zusagten Mittel zu einem späteren Zeitpunkt abgerufen werden könnten oder ob sie ihre Pläne ganz begraben müssen. "Wenn das hier schief geht, gehört das alles der Stadt", warnt der Vereinsvorsitzende.

So dramatisch ist die Lage noch nicht, aber wer weiß, was noch kommt? "Wir brauchen eine Perspektive", fordert Ederer. Dass die Stadt in dieser Ausnahmesituation ein bisschen Zeit braucht, um sich neu zu sortieren, ist ihm klar. Aber wenn ein Baubeginn im Jahr 2023 möglich wäre, das wäre schon erfreulich. Aber dafür sieht der Stadtkämmerer derzeit keine Chance. "Bis 2024 ist das Projekt in der Finanzierungsplanung nicht vorgesehen." Vorhersagen über die Entwicklung will Ernst nicht machen: "Dazu kann man seriös nicht sagen." Und wenn sich nicht plötzlich ein Konjunkturwunder einstellt und Phantastilliarden von Steuereinnahmen sprudeln, bleibt das Musikheim wohl das, was es immer war. Ein Provisorium.

Baurechtlich gilt das Kino voller Musikinstrumente übrigens noch als Kirche, das macht die ganze Geschichte noch vertrackter. Vor der Knabenkapelle nutzte die Pfarrgemeinde Heilig Kreuz, die in den Sechzigern genauso jung und neu war wie der ganze Stadtteil Dachau Ost, die Räume für ihre Zwecke. Damit alles seine Ordnung hat, muss die Nutzung umgewidmet werden von der Kirche zur Musikschule. Dafür braucht es extra einen Bauantrag, was an sich nicht so schlimm wäre, weil die Knabenkapelle ja sowieso bauen will. Aber wie eine Geißel kommt nun auch noch die Stellplatzverordnung über sie. Theoretisch müsste die Knabenkapelle auf dem kleinen Grundstück 35 Parkplätze errichten, etwa so viele wie der Edeka an der Schleißheimer Straße hat. Tilo Ederer versteht nicht, warum das jetzt auf einmal nötig sein sollte. "Die vergangenen Jahre hat es doch auch problemlos funktioniert." Manche Provisorien haben sich eben doch bewährt, auf würdige Weise.

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Quelle:
SZ vom 27.02.2021
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