Süddeutsche Zeitung

Dachau:Musikalisches Gegenpressing

Lesezeit: 2 Min.

Free Jazz als packendes Live-Erlebnis: "Sabir Mateen & Dell/Ramond/Kugel" in der Kulturschranne

Von Andreas Pernpeintner, Dachau

Eigentlich ist die amerikanisch-deutsche Formation "Sabir Mateen & Dell/Ramond/Kugel", deren aus den Musikernamen zusammengeklebter Bandname sehr nach Provisorium aussieht, nur als Ersatz für das amerikanische "Jemeel Moondoc Quartet" gekommen. Doch was Mateen und seine Mannen beim Jazz e.V. in der Kulturschranne zwei Stunden lang vorführen, bringt dermaßen direkt auf den Punkt, was Musik der freien Improvisation zu einem packenden Live-Erlebnis macht, dass es zuvorderst zu sagen gilt: Bitte wiederkommen! Nicht nur als Ersatz, sondern ganz offiziell.

Die vier Musiker fackeln nicht lange. Klaus Kugel am Schlagzeug, Christian Ramond am Bass und Christopher Dell am Vibrafon stellen ein brachiales, herrlich ungestüm durcheinanderwuselndes Fundament in den Raum, das in seinem gnadenlosen Vorwärtstrieb alleine schon des Zuhörens wert wäre. Und auf dieses Fundament stellt sich nun Mateen und bläst einem abwechselnd mit Tenorsaxofon und Bassklarinette die Ohren durch. Wunderbar. Das schnattert und kreischt, da blitzt melodische Schönheit auf, um dann lustvoll durch die Mangel gedreht zu werden. Das ist Jazz mit voll durchgedrücktem Gaspedal, oder - modern fußballerisch ausgedrückt - eine Art musikalisches Gegenpressing.

Überaus spannend ist dabei die Rolle von Dell am Vibrafon, das selbst beim Jazz e.V. - der ja nicht nur ein Forum für neue freie Jazzmusik, sondern en passant oft auch ein Forum für ausgefallenen Instrumentenbau ist - eine absolute Seltenheit ist. Dell spielt nicht nur die wohl virtuosesten Soli des Abends und wirbelt mit seinen vier Schlägeln, dazu am ganzen Körper zuckend und bebend, in halsbrecherischen Skalen über die Klangstäbe, dass es eine Schau ist - nein, ihm kommt in dieser Besetzung auch die Funktion des Harmonieinstruments zu. Denn mit vier Schlägeln kann man so einem Vibrafon wirklich hübsche Akkorde und Voicings entlocken. Das aber geht - weit stärker, als es mit Klavier oder Gitarre der Fall wäre - naturgemäß mit einem derart starken perkussiven Moment einher, dass Dell dadurch nebenbei eine Art zweiten Schlagwerkpart absolviert, der scheinbar vollkommen losgelöst ist von Kugels famoser Arbeit am Drumset und sich mit dieser trotzdem herrlich überlagert. Das ist ganz zentral für die enorme, und bei aller Wucht stets feingliedrige Ereignisdichte dieses Konzerts - und wäre das Vibrafon über die aufgebauten Mikrofone etwas lauter verstärkt, wär's wohl noch eindrucksvoller.

Die vier Musiker gestalten die beiden Konzerthälften nicht als Folge von Einzeltiteln, sondern als weit gespannte musikalische Sessions. Dass deshalb die Darbietung etwas sehr Prozessuales hat, dass allmähliche Übergänge zwischen den Phasen unterschiedlicher Ausdrucksintensität vorherrschen (und nicht exakt auskomponierte Subito-Effekte), liegt auf der Hand. Ebenso, dass es Musiker dieses Formats natürlich nicht versäumen, dem furios bewegten Forte ausgedehnte leise Klangcollagen dramaturgisch gekonnt gegenüberzustellen.

Sehr schön ist, wie in diesen Passagen der Puls der Musik retardiert oder ganz zum Erliegen kommt, wie Kugel sein Schlagwerk zum farblich pastellenen Klingeln und Tönen anreizt, die Becken mit dem Streicherbogen zum Singen bringt - und wie auch Bassist Ramond zum Bogen greift und plötzlich eine fragile Melodik zu hören ist, von der keiner weiß, wo und wann genau sie eigentlich begonnen hat und wo sie enden wird. Ein sehr feiner Abend zum Jahresabschluss des Dachauer Jazzherbstes.

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Quelle:
SZ vom 30.11.2015
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