Dachau/Markt Indersdorf:Die Vielfalt des Judentums

Seit 1700 Jahren gibt es jüdisches Leben in Deutschland. Anlässlich dieses Festjahres haben die Volkshochschulen Dachau Land eine Veranstaltungsreihe organisiert - auch um damit dem erstarkenden Antisemitismus entgegenzuwirken

Von Helmut Zeller, Dachau/Markt Indersdorf

In Deutschland leben 150 000 Jüdinnen und Juden. In der Mehrheitsgesellschaft gelten sie vielen, Umfragen zufolge etwa 20 bis 30 Prozent, als Fremde, Andere. Auf antisemitische Vorfälle und Angriffe reagiert die Politik häufig mit reflexhaften Sätzen wie: "In Deutschland gibt es keinen Platz für Antisemitismus." Und ob es den gibt - der jüdische Alltag ist geprägt von Gewalt, Drohungen, sprachlichen Übergriffen. In diesem Jahr gibt es bundesweit mehr als eintausend Veranstaltungen zu "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland". Auch die Volkshochschulen Dachau Land haben eine Veranstaltungsreihe organisiert, um im Landkreis jüdisches Leben deutlich sichtbarer und erlebbar werden zu lassen. Auch soll damit dem erstarkenden Antisemitismus entgegengewirkt werden.

Zum Auftakt der Volkshochschulreihe gibt es ein musikalisches Experiment am kommenden Sonntag, 3. Oktober, in der Basilika am Petersberg in der Gemeinde Erdweg. "Alpen Klezmer - Das Konzert Bayrisch, jiddisch, wuid & koscher. Bairisch geht's zu und jiddisch auch. Wild und rau geht's zu, aber auch sanft und beseelt." Andrea Pancur, München-Ramersdorf, und Ilya Shneyveys, Brooklyn-New York, treffen aufeinander und spielen weit entfernt von "zünftiger Hüttengaudi im Stadl-Sound" Alpen Klezmer vom Feinsten. Die beiden Musiker haben altes jiddisches und bairisches Liedgut recherchiert, entstaubt und gemäß dem Motto "Lang lebe der koschere Gebirgsjodler" neues Material in den Rucksack gepackt, wie die Veranstalter schreiben. Dem unvergleichlichen Musiker Leonhard Cohen ist das Konzert: "I was your man" am 9. Oktober gewidmet. Thomas Kraft (Texte), Laura Wachter (Gesang) und Steven Lichtenwimmer (Gitarre) nehmen das Publikum mit bei einer gefühlvoll literarisch-musikalischen Erinnerung an Leonard Cohen. In seinen Gedichten und Songs brachte er Schönheit, Liebe und Tod zusammen, gab ihnen eine Melodie und berührte die Menschen damit auf eine geradezu magische Weise. Mit Texten von ihm und über ihn und mit seinen Songs, mit denen er seit den sechziger Jahren bis zu seinem letzten Album "You Want It Darker" die Menschen faszinierte, werden an diesem Abend alle Facetten des großen Poeten und Troubadour erleuchtet.

Veranstaltung 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland der Vhs Dachauer Land

Andrea Pancur und Ilya Shneyveys spielen weit entfernt von "zünftiger Hüttengaudi im Stadl-Sound" Alpen Klezmer vom Feinsten.

(Foto: Werner Bauer)

In die "wunderbare Vielfalt des Judentums" führt ein Online-Vortrag von Elias Sigmund Jungheim am 19. November ein. Jungheim ist Mitarbeiter der internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft. Jungheim schreibt: "Die Bundesrepublik feiert in diesem Jahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Solch eine Kontinuität ist in der Tat ein Grund zu feiern! Doch was wissen wir eigentlich über das, was jüdisches Leben genannt wird? Ist es nicht doch eher so, dass der Großteil der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit dem Judentum zumeist die unsäglichen Verbrechen der Nationalsozialisten verbindet? Das Judentum - so kann eine These lauten - ist in den Köpfen zumeist das Opfer geblieben und von der Vielfalt des jüdischen Lebens ist kaum etwas ins kollektive Bewusstsein gedrungen." In dieser Veranstaltung geht es darum, die Vielfalt und Lebendigkeit des Judentums darzustellen: etwa die Fragen ob das Judentum nun eine Religion oder doch ein Volk ist oder wie jüdisches Leben heute im 21. Jahrhundert aussieht?

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, spricht anlässlich der 1700-Jahr-Feierlichkeiten lieber von einem Festjahr als von einem Jubiläumsjahr. Denn zum Jubilieren, sagte Schuster im SWR, gebe es "nicht unbedingt Anlass". Wichtig ist ihm aufzuzeigen, was in diesen 1700 Jahren auch "durch jüdische Menschen in Deutschland geschaffen wurde" und, "dass jüdische Menschen eigentlich ganz selbstverständlich zu Deutschland gehören sollten". In diesem Jahr soll an die umfangreiche Geschichte der jüdischen Religionsgemeinschaft in Mitteleuropa erinnern, die sowohl von zahlreichen kulturellen Errungenschaften als auch von großem Leid geprägt ist - besonders in der Shoa. Zudem soll dem erstarkenden Antisemitismus entgegenwirkt werden, wie es auf der Homepage zum Festjahr heißt.

Dachau/Markt Indersdorf: Thomas Kraft umkreist schon länger schreibend auch Rock-Stars.

Thomas Kraft umkreist schon länger schreibend auch Rock-Stars.

(Foto: Catherina Hess)

Tiefe Sorge bereiten den jüdischen Gemeinden der wachsende Rechtsextremismus und Antisemitismus. Der Anschlag von Halle 2019 habe "das jüdische Leben zunächst einmal dramatisch verändert", sagt Schuster. Durch die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen für jüdische Einrichtungen sei aber "wieder eine gefühlte Sicherheit entstanden." Obgleich - wie in früheren Jahren - etwa 20 Prozent der deutschen Gesellschaft eine antijüdische Einstellung hätten, sei es aber mittlerweile wieder opportun, diese Vorurteile in der Öffentlichkeit auszusprechen - woraus leider dann auch Taten folgten. "Es gilt hier hellhörig zu sein, es gilt hier wachsam zu sein, es gilt hier aufzuklären ohne Ansehen von Personen und Institutionen", betont Josef Schuster.

Nach dem mutmaßlichen Anschlagsversuch auf die Synagoge in Hagen Mitte September sagte Charlotte Knobloch: "Angst und Unsicherheit gefährden jüdische Zukunft in Deutschland." Dein Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern machte in einer Erklärung vom 16. September deutlich, dass dieser mutmaßliche Anschlagsversuch nur Monate nach den Attacken auf die Synagogen in Bonn und Ulm das Gefühl vieler jüdischer Menschen in Deutschland verstärke, sie könnten nur sicher leben, wenn sie nicht sichtbar jüdisch seien. "Wer mit Kippa unterwegs ist, wer eine Davidsternkette trägt oder wer am Abend des höchsten jüdischen Feiertages zu seiner Synagoge aufbricht, der begibt sich in Gefahr - so denken inzwischen viele in der jüdischen Gemeinschaft." Sonntagsreden und Jubiläumsfeiern allein würden daran nichts ändern, es brauche klare Taten aus der Politik und eine deutliche Antwort der Gesellschaft. Die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, betonte, dass diese die jüdischen Gemeinden im Land von der Politik auch nach der Bundestagswahl erwarten würden.

Veranstaltung 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland der Vhs Dachauer Land

Laura Wachter und Steven Lichtenwimmer nehmen das Publikum mit bei einer gefühlvoll literarisch-musikalischen Erinnerung an Leonhard Cohen.

(Foto: privat)

Auf dem Programm der Volkshochschulen Dachau Land steht auch ein Orgelkonzert in Mariä Himmelfahrt in Dachau, in dessen Mittelpunkt musikalische Stücke jüdischer Musiker stehen. In den liberalen jüdischen Gemeinden hielt die Orgel Einzug in vielen Synagogen. Welche Bedeutung bis 1933 gerade auch die gottesdienstliche Musik der Synagogengemeinden für die kulturelle Vielfalt in Deutschland besaß, davon könne dieser Abend einen unmittelbaren Eindruck vermitteln, sagen die Veranstalter. Die Kirche Mariä Himmelfahrt in Dachau verfügt über eine der schönsten Orgel im gesamten Münchner Umland. Es werden Stücke gespielt von Hugo Schwantzer aus dem Jahr 1866. Etwas älter als Schwantzer war der Franzose Charles-Valentin Alkan, Sohn eines jüdischen Musiklehrers und selbst eine Reihe von Jahren am jüdischen Tempel von Paris als Organist tätig. Er war mit Chopin befreundet und wurde als Virtuose an Klavier und Orgel und auch als Komponist mit Franz Liszt verglichen.

David Nowakowsky war jahrzehntelang Chorleiter an der Synagoge von Odessa, in der Ukraine am Schwarzen Meer, und galt zu seiner Zeit als genialer Komponist. Er musste zur Zarenzeit mehrere Pogrome miterleben und die Unterdrückung und Verfolgung der Juden in der Sowjetunion. Nowakowsky starb 1922 verarmt und fast vergessen. Der vierte jüdische Komponist an diesem Abend ist Siegfried Würzburger. Er war seit 1911 Organist an der Westend-Synagoge in Frankfurt am Main und zugleich ein bedeutender Musikpädagoge. Da er im Laufe der Zeit fast erblindet war und einer seiner Söhne unter schwerstem Asthma litt, konnte er nicht vor den Nazis ins Ausland flüchten; alle Versuche, ein Aufnahmeland zu finden, blieben vergeblich. 1941 wurden Siegfried Würzburger, seine Frau Gertrud und sein Sohn Hans nach Lodz deportiert, wo er drei Monate später völlig entkräftet starb.

Mit ihrem Programm wollen die Volkshochschulen die Vielfalt jüdischen Lebens und jüdischer Kultur seit ihren Anfängen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken - 1700 Jahre zählt diese Geschichte. Am 11. Dezember 321 erließ der römische Kaiser Konstantin ein Edikt. Das Gesetz legte fest, dass Juden städtische Ämter in der Kurie, der Stadtverwaltung Kölns, bekleiden dürfen und sollen. Dieses Edikt belegt eindeutig, dass jüdische Gemeinden bereits seit der Spätantike wichtiger integrativer Bestandteil der europäischen Kultur sind. Eine frühmittelalterliche Handschrift dieses Dokuments befindet sich heute im Vatikan und ist Zeugnis der mehr als 1700 Jahre alten jüdischen Geschichte in Deutschland und Europa.

Weitere Informationen und Anmeldungen unter www.vhs-dachau-land.de oder unter Telefon 08136/806699. Bei allen Präsenzveranstaltungen gelten bis auf weiteres die 3G-Regel (geimpft, genesen oder getestet - aktueller PCR oder Schnelltest). Besucher müssen einen entsprechenden Nachweis mitführen, vor Ort ist kein Test möglich. Einlass ist jeweils 45 Minuten vor Beginn der Veranstaltung. Die Termine: Alpen Klezmer, 3. Oktober, 19 bis 20.30 Uhr Ort: Basilika am Petersberg 1, Erdweg Gebühr: 24,00 Euro. Gedächtniskonzert zu Ehren von Leonhard Cohen, 9. Oktober, 19 bis 20.30 Uhr, Basilika am Petersberg 1, Gebühr 24 Euro. Orgelkonzert mit jüdischer gottesdienstlicher Musik von vier Komponisten, 6. November, ab 19 Uhr, in der Mariä Himmelfahrt Kirche in Dachau. Eintritt kostenlos. Vortrag und Diskussion mit Elias Sigmund Jungheim, Mitarbeiter des internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft, am 19. November, 19 bis 20.30 Uhr,Gebühr: 9 Euro.

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