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"Dachau liest":Deutschlands Seiten

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Beim Literaturfestival "Dachau liest" sind in diesem Jahr sind wieder namhafte Autoren zu Gast, die sich kritisch mit wichtigen Themen der Gegenwart auseinandersetzen. Mit dabei ist diesmal auch die Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2020.

Von Gregor Schiegl, Dachau

Das Literaturfestival "Dachau liest" im Herbst 2021 erlebte Steffen Mollnow schon nicht mehr. Der Leiter der Dachauer Stadtbücherei starb im August vergangenen Jahres im Alter von nur 43 Jahren. "Dachau liest" war "sein Baby". Wie sich nun zeigt, ist es bei seiner Nachfolgerin, Slávka Rude-Porubská, in besten Händen, sie pflegt das erfolgreiche kleine Lesefestival ganz im Geiste Mollnows mit einer illustren Auswahl von Autorinnen und Autoren, mit gesellschaftlich relevanten Themen und, ja, auch bisschen Glamour. Zu der mittlerweile achten Ausgabe von "Dachau liest" kommen Steffen Kopetzky, Eva Gruberová und Helmut Zeller, Judith Hermann und Helga Schubert und Doris Dörrie. Eine kostenlose Lesung für Kinder und Jugendliche von Alice Pantermüller rundet das Programm ab. Die Stadtbücherei veranstaltet "Dachau liest" in diesem Jahr vom 4. bis zum 9. Oktober.

Autobiografisches Schreiben

In mehr als 50 Kurzkapiteln erzählt die Filmregisseurin und Autorin Doris Dörrie aus ihrem Leben, von Kindheitserinnerungen und unbeschwerten Glücksmomente aber auch von persönlichen Schicksalsschlägen und Katastrophen. Ihr Buch "Leben, schreiben, atmen" ist zugleich eine Einladung an alle, die Kraft des autobiografischen Schreibens zu entdecken. Mit kreativen Tipps und Anleitungen ermutigt Doris Dörrie ihre Leser dazu, das Bedürfnis nach Selbstkontrolle und Optimierung einmal abzulegen und selbst loszuschreiben über das eigene Leben - ohne Angst, Scham und Zweifel. Sich schreibend Menschen, Gegenständen, wilden Gedanken, fremden und vertrauten Orten oder selbsterlebten Momenten mit besonderer Atmosphäre und starken Emotionen zu nähern und so die Welt in Worte fassen. Das können auch die kleinen Dinge des Lebens sein: der Geschmack von Zitronen; wie es ist zu tanzen oder über ein Kleidungsstück. Die interaktive Lesung findet am Montag, 4. Oktober, um 20 Uhr statt.

Die Liebe in Zeiten der Pocken

Aerosole und Viren, isolierte Krankenhäuser und Impfkampagnen, Partys als Super-Spreader-Events und Leugner von Ansteckungsgefahren: Irritierend vertraut lesen sich in unserer Corona-Gegenwart die Szenen aus dem Roman "Monschau", mit dem Steffen Kopetzky am Dienstag, 5. Oktober, um 20 Uhr zu Gast ist und der vom Ausbruch einer Pockenepidemie 1962 im Landkreis Monschau in der Eifel erzählt. Brandaktuell und brisant sind auch die Fragen nach den behördlichen Fehlern im Pandemie-Management und den starken Wirtschaftsinteressen: Der von alten Seilschaften aus der NS-Zeit profitierende Chef der Monschauer Rither-Werke weigert sich, die florierende Produktion der in die ganze Welt exportierten Hochöfen herunterzufahren und die Infizierten in Quarantäne zu schicken. Entlang der auf wahren Ereignissen basierenden Geschichte um die Bekämpfung der hochansteckenden Seuche durch den bekannten Dermatologen Günter Stüttgen erzählt der Roman auch von einer Liebe im Ausnahmezustand, die zwischen dem griechischen Medizinstudenten Nikolaos Spyridakis und Vera aufblüht, der schwerreichen Alleinerbin der Rither-Fabrik.

Der Antisemitismus der Mitte

Die amtlichen Statistiken belegen einen Anstieg antisemitischer Straftaten in Deutschland, die Schändung jüdischer Denkmäler, Anschläge auf Synagogen und judenfeindliche Parolen. Und das ausgerechnet im Jahr 2021, in dem das jüdische Leben in Deutschland auf eine 1700-jährige Geschichte zurückblickt. Viele in Deutschland verorten den durch Krisen angefachten und durch Hassbeiträge in sozialen Medien verbreiteten Antisemitismus hauptsächlich an den Rändern der Gesellschaft, bei Rechts- oder Linksradikalen oder in muslimischen Communities. Eva Gruberová und Helmut Zeller stellen dagegen in ihrem neuesten Buch "Diagnose: Judenhass. Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit" eine unbequeme These auf: Antisemitismus ist nach dem Holocaust und nach 1945 nicht verschwunden.

Er ist weiterhin da, in dem noch jungen 21. Jahrhundert sogar virulenter denn je - und er ist mitten in der Gesellschaft verwurzelt. Für ihr neues Buch sind Eva Gruberová und Helmut Zeller, der auch für die SZ Dachau schreibt, zwei Jahre lang zwischen Ostsee, Bayern und Wien gereist und haben bei Interviews 80 Jüdinnen und Juden zugehört. Somit haben sie den in der Antisemitismus-Debatte direkt Betroffenen eine Stimme gegeben: ihrer Wut und ihren Ängsten, ihrem Widerstand und ihrem Wunsch nach Normalität. Über das Buch diskutieren sie am Mittwoch, 6. Oktober, um 20 Uhr mit Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler, der die Veranstaltung moderiert.

Von Rückzug und Aufbruch

Ankommen im Leben, heimisch werden, nachdem man vieles losgelassen und sich vom Besitz und aus früheren Beziehungen befreit hat, das ist das Thema des Romans "Daheim" von Judith Hermann. Darin schlägt die namenlose Ich-Erzählerin, eine junge Frau, das Angebot aus, als Assistentin eines Zauberers auf einem Kreuzfahrtschiff bis nach Singapur zu reisen. Nachdem die Tochter, kaum volljährig, zu einer Weltreise aufgebrochen ist, verlässt sie ihren Mann und zieht mit Ende vierzig aus der Großstadt in ein kleines Dorf an der friesischen Nordseeküste - in ein Haus für sich. Den 2021 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman stellt die Autorin in der von Günter Keil moderierten Lesung am Donnerstag, 7. Oktober, um 20 Uhr vor. Judith Hermann erzählt vom Rückzug aufs Land und von selbst gewählter Einsamkeit, in der man doch einen Neuanfang wagen kann - vorsichtige Freundschaften schließen, eine Liebesaffäre eingehen, eine Verbindung zu der kargen Landschaft aufbauen. In schnörkelloser, knapper Sprache fragt der Text, wie aus dem Schwebezustand zwischen Erinnerung und Sehnsucht, zwischen Melancholie und Widerstandskraft ein Aufbruch wird und wie unsere Entscheidungen zu Wendepunkten im Leben werden.

Ein deutsches Jahrhundertleben

"Ich bin ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung." Das Mädchen, vom Krieg, von Flucht und Vertreibung sowie von der emotionalen Kälte der Mutter gekennzeichnet, macht sich auf die Suche nach Zuwendung und Wärme im Leben. Die junge Frau studiert und fängt an zu schreiben. Sie lehnt sich auf gegen das DDR-Unrechtsregime im eingemauerten Land, das einem Reisen nicht gestattet, und gerät ins Visier der Stasi. Helga Schuberts Erzählungsband "Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten", das die Autorin bei der von Beate Tröger moderierten Lesung am Samstag, 9. Oktober, um 20 Uhr vorstellt, handelt davon, wie man sich aufrichtet und in Bewegung setzt, wie man aufbegehrt und Widerstand leistet, wie das "Aufstehen" zur Haltung und zum Lebensmotto wird. In leisen, zuweilen ironischen Tönen verbindet die mit dem Ingeborg-Bachmannpreis 2020 ausgezeichnete Autorin eigene Erlebnisse, Erinnerungen und Gedanken mit dem weiten historischen Bogen eines Jahrhunderts deutscher Geschichte. Das berührende und gedankendichte Buch, das 2021 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, ist eine eindrucksvolle Lebensgeschichte und ein Zeitporträt zugleich.

Lotta Petermanns Abenteuer

Für die kleinen Fans von Lotta Petermann und ihrer besten Freundin Cheyenne liest Alice Pantermüller am Donnerstag, 7. Oktober, um 15 Uhr den 17. Band aus ihrer erfolgreichen Reihe "Mein Lotta-Leben" mit dem Titel "Je Otter, desto flotter". Der Eintritt zur Kinderveranstaltung ist frei. Für Kinder im Alter zwischen 8 und 14 Jahren.

Karten zum Preis von 14 Euro (zuzüglich Vorverkaufs- oder Verarbeitungsgebühr) sind im Online-Vorverkauf über www.muenchenticket.de und in der Tourist-Information der Stadt Dachau erhältlich. Alle Veranstaltungen finden mit reduzierter Besucherzahl im Ludwig-Thoma-Haus statt.

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Quelle:
SZ vom 26.08.2021
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