Es ist 12.35 Uhr an diesem regnerischen Sonntag in der KZ-Gedenkstätte, als Bud Gahs im Zelt auf dem ehemaligen Appellplatz die Treppe zur Bühne hinaufsteigt. Langsam nimmt er Stufe für Stufe. Es dauert ein paar Minuten, bis der 100-jährige US-Veteran das Rednerpult erreicht. Währenddessen erheben sich die Besucher von ihren Stühlen und applaudieren. Minutenlang hält das Klatschen an. Gahs ist einer der Soldaten der 7. US-Armee, die vor genau 80 Jahren das Konzentrationslager Dachau befreiten. Jetzt steht er in Uniform am Rednerpult. An seinem Ärmel ist ein Regenbogen eingenäht, das Abzeichen seiner 42. Division, der „Rainbow“-Division.
Er sei hier, sagt Gahs, um im Namen seiner Kameraden von damals zu sprechen, von denen die allermeisten inzwischen nicht mehr lebten. Er erzählt, dass er und die anderen US-Soldaten in den letzten Monaten vor Ende des Krieges im Mai 1945 viele Schlachten geschlagen und oft ihr Leben riskiert hätten. „Doch erst, als wir das Tor von Dachau öffneten“, sagt Gahs, „wussten wir, wofür wir gekämpft hatten.“
Rund 1700 Menschen erinnern am Sonntag auf dem Gelände der Gedenkstätte in Dachau an die Befreiung des Konzentrationslagers am 29. April 1945. Unter ihnen sind Vertreter aus Politik, Religion, Gesellschaft sowie Befreier Bud Gahs und neun ehemalige KZ-Häftlinge und deren Familien. Die Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors und andere Redner mahnen, sich trotz der zunehmenden geschichtlichen Distanz weiter an die Verbrechen zu erinnern und sich für Demokratie und Menschlichkeit und gegen Hass und Krieg einzusetzen.
Der 80. Jahrestag der Befreiung Dachaus fällt in eine Zeit des fundamentalen Wandels der deutschen Erinnerungskultur. Je länger die Verbrechen des Nationalsozialismus zurückliegen, desto weniger Menschen gibt es, die sie mit eigenen Augen gesehen haben und davon berichten können. Jahrzehntelang waren sie die stärksten Kräfte gegen das Vergessen, doch inzwischen sind die letzten noch lebenden Zeitzeugen hochbetagt. Auch von den ehemaligen Dachau-Häftlingen leben nur noch wenige. Die Zahl antisemitischer und rechtsextremer Straftaten liegt auf einem Rekordhoch. Hinzu kommen jüngst veröffentlichte Umfragen, wonach immer mehr Menschen in Deutschland 80 Jahre nach Kriegsende einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen wollen. Bei großen Teilen der Bevölkerung tun sich enorme Wissenslücken über geschichtliche Zusammenhänge auf.
Leslie Rosenthal aus Kanada ist mit 80 Jahren einer der jüngsten Holocaust-Überlebenden weltweit. Seine Mutter, eine ungarische Jüdin, brachte ihn kurz vor Kriegsende im Dachauer KZ-Außenlager Kaufering auf die Welt. Bei seiner Rede in Dachau verweist er darauf, dass mit den Zeitzeugen eine direkte Verbindung zum Holocaust verschwinde. „Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Gräueltaten, die Millionen unschuldige Menschen erlitten, weitererzählt werden und die dokumentierte Wahrheit nicht im Mülleimer der Geschichte landet.“ Es sei wichtig, dass sich auch künftige Generationen intensiv mit der NS-Geschichte auseinandersetzten. „Hass, Antisemitismus, Gleichgültigkeit, Apathie und Schweigen können die Schrecken der Vergangenheit wieder auferstehen lassen.“
Die Nationalsozialisten errichteten im März 1933, wenige Wochen nach Hitlers Machtübernahme, in Dachau eines der ersten Konzentrationslager. Dieses wurde zum Modell für sämtliche Konzentrations- und Vernichtungslager. Bis Ende April 1945 sperrte das NS-Regime hier mehr als 200 000 Menschen aus ganz Europa ein. Mehr als 41 500 Häftlinge wurden ermordet oder starben an den Folgen von Folter, Hunger oder Krankheiten. Als die Befreier am 29. April 1945 in Dachau ankamen, trafen sie auf Berge von Leichen, welche im Krematorium aufgrund von Kohlemangel nicht mehr verbrannt werden konnten, und auf rund 32 000 verbliebene Häftlinge, die allermeisten in einem miserablen körperlichen und psychischen Zustand.


In den Jahrzehnten nach der Befreiung mussten die Überlebenden der Lager um die Anerkennung ihres Leids kämpfen. Erst durch das unermüdliche Engagement ehemaliger KZ-Häftlinge entstanden in Dachau und anderen Orten in den 1960er- und 1970er-Jahren erste Gedenkstätten. In ihrer Rede würdigt Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) den Kampf der Überlebenden gegen das Vergessen. „Sie mussten das erstreiten gegen eine Gesellschaft, die am liebsten weiter geschwiegen hätte und so schnell wie möglich vergessen wollte.“
Einer der Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau war der Vater von Josef Schuster, dem heutigen Präsidenten des Zentralrates der Juden. Schuster, 71, nahm schon als kleiner Junge an frühen Gedenkfeiern in Dachau teil. Es war seinem Vater damals ein Anliegen, dass sein Sohn mit ihm den Ort des Schreckens besuchte. Am Sonntagvormittag, noch vor Beginn der zentralen Gedenkfeier, hält Josef Schuster eine Rede am jüdischen Mahnmal auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte.

Etwa 250 Menschen sitzen und stehen dicht gedrängt unter dem Dach eines kleinen Zeltes, auf den der Regen einprasselt. Er erinnert daran, dass 1942 binnen zwei Monaten ein Viertel aller jüdischen Opfer der Shoa ermordet wurde. „15 000 Menschen täglich. Das ist eine unvorstellbare Zahl“, sagt Schuster. Doch leider verschwimme diese Dimension immer mehr in einer Indifferenz, „befeuert durch tagtägliche Relativierungen des Menschheitsverbrechens Shoa – auch in deutschen Parlamenten“. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte sei heute politisch umkämpft. Und sie werde umso angreifbarer, je weniger Menschen noch selbst bezeugen könnten, was geschehen sei. „Die Zeitzeugen sind sterblich. Ihre Erinnerungen sind ein Schutz“, sagt Schuster. Doch erinnern heiße nicht nur bewahren. „Erinnern heißt auch widersprechen, wenn Geschichte verzerrt wird. Erinnern bedeutet, sich der Frage zu stellen, wie der Mensch dem Menschen so etwas antun konnte.“
Nach einem Gedenken am ehemaligen Krematorium gehen Hunderte Besucher unter Regenschirmen über die Lagerstraße zum Zelt auf dem ehemaligen Appellplatz. Ganz vorn schreitet der Enkel des einstigen KZ-Häftlings Arthur Haulot über den knirschenden Kies. Haulot war ein belgischer Widerstandskämpfer, der noch kurz vor der Befreiung das Internationale Dachau Komitee mitgründete. Nun, 80 Jahre später, trägt sein Enkel ein „Gedenkbuch“ mit den Namen fast aller Opfer des KZ Dachau.

Im Zelt eröffnet Gabriele Hammermann, die Leiterin der Gedenkstätte, anschließend die Feier offiziell. „Die gegenwärtigen politischen Entwicklungen in Deutschland und weltweit stellen die Gedenkstätten und so die KZ-Gedenkstätte Dachau vor große Herausforderungen“, sagt sie. Liberale Demokratien stünden vermehrt auf dem Prüfstand, autoritäre politische Ideen, Parteien und Bewegungen erhielten Zulauf. Antisemitisch aufgeladene Verschwörungstheorien prägten die gesellschaftlichen Diskurse. „In dieser Situation des Umbruchs werden Gedenkstätten im politischen Raum infrage gestellt.“ Die Demokratie lebe nicht von sich selbst. Demokratische Werte seien verletzlich. „Sie brauchen Schutz. Schutz vor Gleichgültigkeit. Schutz vor Verachtung. Schutz vor Geschichtsvergessenheit.“
Bud Gahs stimmt Hammermann in seiner Rede zu. KZ-Gedenkstätten wie diese in Dachau müssten für alle Zeit offen bleiben, sagt er. Es dürfe nicht vergessen werden, was hier geschehen sei. Als der 100-jährige Befreier auf der Bühne steht, vertreibt plötzlich hereinbrechender Sonnenschein das Grau des verregneten Tages in Dachau. Die Moderation spricht den Wetterwechsel an. Wenn Gahs rede, scheine die Sonne, sagt sie. Gahs sagt, nicht er und die anderen Befreier seien die wahren Helden gewesen. „Die tapferen Seelen, die unbeschreibliche Schmerzen und Leid ertragen mussten, sind die wahren Helden. Von ihnen haben wir gelernt, wie wichtig Hoffnung und die Stärke des menschlichen Geistes sind.“