Verfolgte des NationalsozialismusZwölf Menschen, zwölf Schicksale

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Die Biografien der ehemaligen KZ-Häftlinge werden in der Kirche des Karmel Heilig Blut an der KZ-Gedenkstätte Dachau vorgestellt.
Die Biografien der ehemaligen KZ-Häftlinge werden in der Kirche des Karmel Heilig Blut an der KZ-Gedenkstätte Dachau vorgestellt. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Mitwirkenden des „Gedächtnisbuchs“ präsentieren einmal mehr Biografien von ehemaligen Dachauer KZ-Häftlingen – und holen deren Verfolgungsgeschichten damit aus der Vergessenheit.

Von Walter Gierlich, Dachau

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert macht das „Gedächtnisbuch – Namen statt Nummern“ ehemalige Insassen des Konzentrationslagers Dachau wieder sichtbar. Ziel ist es, ihnen Würde und Identität zurückzugeben. Dieses historische Projekt habe auch große Bedeutung für die Gegenwart, wie Sabine Gerhardus am Samstag betont, als im Kloster Karmel Heilig Blut an der KZ-Gedenkstätte zwölf weitere Schicksale von ehrenamtlichen Mitwirkenden vorgestellt werden.

Die Erinnerung an die Geschichte zu bewahren, sei ein wichtiger Schritt, um der Propaganda und den Lügen der rechten Populisten entgegenzutreten, betont Projektleiterin Gerhardus. Alljährlich am 22. März, dem Tag der Errichtung des KZ Dachau im Jahr 1933, werden neue Gedächtnisblätter präsentiert. Dieses Mal musikalisch umrahmt vom Gitarristen und Komponisten Tim Turusov.

Der 101-jährige Jean Lafaurie erzählt seine Geschichte immer und immer wieder

Andrea Kugler berichtet über Eugen Bühler aus Nördlingen. Der 1899 geborene Kaufmann ist Soldat im Ersten Weltkrieg. Nach der Reichspogromnacht wird er als sogenannter „Aktionsjude“ ins KZ Dachau verschleppt. Noch vor Weihnachten kommt er wieder frei. Über England emigriert die Familie nach New York, wo Bühler 1970 stirbt.

Der österreichische Abt Reinhold Dessl stellt das Leben seines Zisterzienser-Mitbruders Konrad Just vor, der sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat. Er wird daher gleich am Tag des deutschen Einmarsches nach Österreich im März 1938 kurz festgenommen, im Juli erneut verhaftet und nach Dachau überstellt. Auf dem Todesmarsch wird er am 30. April 1945 befreit. Nach der Rückkehr sei Just, der 1964 stirbt, enttäuscht gewesen, „wie wenig seine Landsleute aus der Geschichte gelernt haben“, so Dessl.

Abt Reinhold Dessl stellt das Leben seines Zisterzienser-Mitbruders Konrad Just vor.
Abt Reinhold Dessl stellt das Leben seines Zisterzienser-Mitbruders Konrad Just vor. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Französin Noémie Hernandez-Bernard, Freiwillige der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) an der Versöhnungskirche, berichtet über ihren 101 Jahre alten Landsmann Jean Lafaurie. 1940 wird er Mitglied einer Widerstandsgruppe. Er landet 1944 im Gewahrsam der Vichy-Behörden, bis sie ihn an die Nazis ausliefern. So wird er am 20. Juni 1944 ins KZ Dachau deportiert. Später kommt er ins Außenlager Allach und muss für BMW arbeiten. Nach der Rückkehr nach Frankreich schweigt er jahrzehntelang darüber, was ihm im KZ geschehen ist. Erst sehr viel später beginnt er, Vorträge über diese Zeit halten. „Es ist das, was ihn am Leben hält“, sagt Hernandez-Bernard.

Noémie Hernandez-Bernard, Freiwillige der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) an der Versöhnungskirche, berichtet über ihren 101 Jahre alten Landsmann Jean Lafaurie.
Noémie Hernandez-Bernard, Freiwillige der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) an der Versöhnungskirche, berichtet über ihren 101 Jahre alten Landsmann Jean Lafaurie. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Nicht überlebt hat Max Fried, über den Irene Stuiber berichtet. Er und seine Frau Lilli werden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Der 1879 in Wien geborene Fried zieht Anfang der 1890er-Jahre nach Augsburg um, wechselt 1900 zum Studium der Architektur nach München. 1912 heiratet er, 1913 wird Sohn Walter Erich geboren. Nach der Pogromnacht 1938 wird Fried für einige Wochen ins KZ Dachau gesperrt. Während dem Sohn 1939 die Flucht nach Bolivien gelingt, werden die Eltern 1943 nach Auschwitz verschleppt.

Irene Stuiber spricht über das Leben von Max Fried.
Irene Stuiber spricht über das Leben von Max Fried. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Evangelischer Theologe bei den Böhmischen Brüdern ist der 1903 geborene Eugen Zelený, den Bettina Korb vorstellt. Er, der in der Tschechoslowakei, in Paris und New York studiert hat, wird wegen kritischer Predigten im August 1940 erstmals festgenommen, im Oktober wieder freigelassen und 1941 erneut verhaftet. Er wird nach Dachau gebracht, wo er bis zur Befreiung im Priesterblock des KZ lebt. Der Tscheche hält Kontakt zu seinen ehemaligen Mitgefangenen und reist 1967 zur Einweihung der Versöhnungskirche.

Musik hat Franz Gory Kaufmann das Leben gerettet

Über August Hölzel, den Maurer, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, der 1887 geboren wurde, erzählt dessen Enkelin Rita Willnat. Nach der NS-Machtübernahme 1933 verliert er seine Wohnung und seine Arbeit in der Gewerkschaft. Er geht in den Widerstand, wird 1940 erstmals für kurze Zeit verhaftet, ehe er 1944 erneut festgenommen und ins KZ Dachau überstellt wird, wo er im Oktober stirbt.

In eine jüdische Kaufmannsfamilie wird 1900 Heinz Pappenheimer geboren, der 1924 in Aalen ein Textilgeschäft eröffnet. Sein Schicksal stellt Werner Dombacher vor. 1935 wird Pappenheimer zum Verkauf seines Wohnhauses, 1938 seines Geschäfts gezwungen. Nach der Pogromnacht wird er einige Wochen im KZ Dachau festgehalten, ehe der Familie im August 1939 die Emigration nach Palästina gelingt, wo er bis zu seinem Tod 1983 lebt.

Heinrich Staubs Leben hat seine Enkelin Gudrun Czerwinski erforscht, die aber am Samstag nicht in Dachau sein kann. Ihren Text präsentiert eine ASF-Freiwillige. Der gelernte Mechaniker, der seit 1933 Autos vermietet, lebt unauffällig. In seiner hessischen Heimat wird er wegen kritischer Äußerungen und Kontakten zu Polen und Juden verhaftet, im Juli 1944 ins KZ Dachau gebracht, wo er am 1. Februar 1945 stirbt.

Gefangen im KZ Dachau
:"Warum bin ich verhaftet worden? Warum?"

Am 22. März 1933 verschleppt das NS-Regime die ersten politischen Gegner in das noch chaotische Konzentrationslager Dachau. Häftling Nummer eins, Claus Bastian, fragt sich zeitlebens, weshalb er ins Lager musste.

SZ PlusVon Thomas Radlmaier (Text) und Katja Schnitzler (digitale Umsetzung)

Der in Leningrad geborene Georgij Solomonoff, über den Houman Amjadi berichtet, fällt allein schon wegen seiner iranischen Nationalität auf. Es gibt kaum Akten über ihn, er wird im August 1944 ins KZ Dachau gebracht, im November kommt er wieder frei. Mit Mutter und Bruder gelingt ihm die Emigration nach Argentinien. 2017 stirbt er in Kalifornien.

Der Österreicher Josef Finster steht in den 1920er-Jahren mehrmals wegen kleinerer Vergehen vor Gericht. Er wechselt immer wieder Arbeitsplätze oder ist arbeitslos. Laut seiner Großnichte Waltraud Finster wird er 1938 als „Berufsverbrecher“ ins KZ Dachau gebracht, kurze Zeit später nach Flossenbürg, wo er nicht lange überlebt.

Stefania Hayward vom Karmel-Kloster stellt Kazimierz Wawrzyniak vor, der nach dem deutschen Überfall auf Polen ein Noviziat bei den Steyler Missionaren beginnt, aber schon 1940 verhaftet und im Mai nach Dachau gebracht wird. Nach der Befreiung verlässt er den Orden, studiert in München, kehrt nach Polen zurück und wird Diplomat wird. Er stirbt 1991.

Franz Gory Kaufmann weiß, dass die Musik ihn gerettet hat, wie Michaela Hoff und ihre Schüler aus Stephanskirchen erzählen. Denn der Sinto stand schon mit 15 Jahren als Geiger auf der Bühne, trat in Berlin, Paris und den USA mit seiner Kapelle auf. Im August 1942 kam er über das KZ Dachau ins KZ Sachsenhausen. Dort spielte er nicht nur in der Lagerkapelle, sondern auch privat bei einem SS-Mann zu Hause. Im November 1942 wurde er entlassen, musste aber Zwangsarbeit verrichten. Nach dem Krieg machte er bis zu seinem Tod 1992 als Musiker Karriere, spielte mit Django Reinhardt, Max Greger und Paul Kuhn. Zu seinem Gedenken erklang am Ende der Veranstaltung ein Stück von ihm.

Das Gedächtnisbuch ist eine stetig wachsende Sammlung von Biografien ehemaliger Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau. Die Evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau stellt die Gedächtnisblätter dauerhaft aus. Ein digitaler Lesetisch ermöglicht die Ansicht und Lektüre der Gedächtnisblätter. 

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