Süddeutsche Zeitung

Preis für Zivilcourage:Über die Angst hinauswachsen

Die Dachauerin Eva Gruberová trat gemeinsam mit Schülern in der KZ-Gedenkstätte einem rechtsradikalen Blogger entgegen. Vor Gericht sagten sie gegen den Volksverhetzer aus. Dafür erhalten sie nun den Dachau-Preis für Zivilcourage.

Von Thomas Radlmaier, Dachau/Kirchseeon

Als am Freitagabend der offizielle Teil im Dachauer Rathaus zu Ende ist und sich kleinere Gesprächsrunden bilden, blickt Eva Gruberová in einem ruhigen Moment auf die Bildergalerie im Sitzungssaal. Die Collagen zeigen die Gesichter der bisherigen Träger des Dachau-Preises für Zivilcourage. Menschen, die außergewöhnlichen Mut bewiesen haben: NS-Widerstandskämpferinnen, KZ-Überlebende oder die Anwältinnen Seda Başay-Yildiz und Gülsen Celebi. Başay-Yildiz zum Beispiel hatte im Münchner NSU-Verfahren Angehörige der Opfer der rechtsextremistischen Terrorzelle NSU als Nebenklageanwältin vertreten. "All diese Namen", sagt Eva Gruberová, während sie auf die Collagen schaut. Es klingt so, als könnte sie noch nicht fassen, dass unter anderem sie diese Reihe der Vorbilder fortsetzen wird.

Die Dachauerin Eva Gruberová sowie Schüler und ein Lehrer des Gymnasiums Kirchseeon im Landkreis Ebersberg haben am Freitag den Dachau-Preis für Zivilcourage 2021 erhalten. Im Februar 2019 schritten sie ein, als der rechtsradikale Videoblogger Nikolai Nerling in der KZ-Gedenkstätte Dachau einen Propagandafilm gegen einen vermeintlichen "Schuldkult" drehen wollte. Damals leitete Gruberová, die als Referentin an der KZ-Gedenkstätte Dachau arbeitet, einen Rundgang mit den Gymnasiasten über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. Sie erkannte Nerling, der sich als der "Volkslehrer" in der rechtsextremen Szene Deutschlands einen Namen gemacht hat. Gruberová alarmierte Verwaltungspersonal an der Gedenkstätte, um Nerling und dessen Kameramann des ehemaligen Konzentrationslagers zu verweisen, wo zwischen 1933 und 1945 mehr als 41 500 Häftlinge ermordet wurden.

Die Jugendlichen hätten sich "psychisch stark belastenden Prozessen" gestellt

Währenddessen ging Nerling auf die Schüler zu und sagte, sie sollten nicht alles glauben, was ihnen in der Gedenkstätte erzählt werde. Doch die Schüler widersprachen ihm und enttarnten seine Verschleierungsaussagen als das, was sie sind: Holocaust-Verharmlosung und der ewig gestrige Antisemitismus in einer modernen Verpackung. Nach dem Vorfall kam es zu zwei Prozessen. Darin sagten Gruberová und die Schüler gegen Nerling aus. Sie belasteten einen der bekanntesten Rechtsextremisten des Landes vor dem Amtsgericht Dachau und vor dem Landgericht München, während sie diesem nur wenige Meter gegenüber saßen. Sie ließen sich auch nicht von der teils harten Befragung der Verteidiger aus der Ruhe bringen. Mit ihren Aussagen trugen sie maßgeblich dazu bei, dass Nerling in beiden Verhandlungen wegen Volksverhetzung verurteilt wurde.

Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) überreichte Eva Gruberová, den Schülern sowie deren Lehrer Thomas Laufer den Dachau-Preis für Zivilcourage. Diesen lobt die Stadt Dachau im zweijährigen Turnus aus. Mit dem Preis soll das Vermächtnis der Opfer der Konzentrationslager und des vielfältigen Widerstandes gegen das NS-Regime lebendig gehalten werden. Aufgrund der Corona-Pandemie musste die diesjährige Verleihung im Dachauer Rathaus unter Ausschluss der Öffentlichkeit und Einhaltung der 2G-Plus-Regel stattfinden. Hartmann sagte, Gruberová und die Jugendlichen hätten sich den "psychisch stark belastenden Prozessen" gestellt und den Mut gehabt, mit ihrem Namen in einer öffentlichen Verhandlung gegen Nerling auszusagen. Hartmann erinnerte daran, dass Gruberová für "ihr mutiges Eintreten" ausgerechnet von Nerling angezeigt worden sei, wegen Beleidigung - "mit allen damit verbundenen persönlichen und psychischen Belastungen". Sie wurde zum Ziel von persönlichen Attacken in mehreren Videos auf Nerlings Youtube-Kanal. "Mit der Verleihung des Dachau-Preises für Zivilcourage 2021 möchten die Stadt Dachau und die Jury die couragierte Haltung der Preisträgerinnen und Preisträger würdigen und gleichzeitig ein Zeichen der Solidarität mit ihnen setzen", sagte Hartmann.

Eine derartige Bereitschaft zum Widerspruch sei leider nicht selbstverständlich

Die Jury für den Dachau-Preis für Zivilcourage 2021 bestand aus dem Künstler Martin Schmidl, der Historikerin Sybille Steinbacher und dem Journalisten Achim Wendler. Schmidl hielt im Sitzungssaal die Laudatio auf die Preisträger. Er sagte, Eva Gruberovás Handeln in der KZ-Gedenkstätte und ihre Bereitschaft, sich öffentlich zu positionieren, wirkten vielleicht selbstverständlich. "Wenn man sich die steigende Zahl an rechten Aktivitäten und daraus resultierenden Gewalttaten in unserem Land ansieht, muss man aber feststellen, dass eine derartige Bereitschaft zum Widerspruch leider nicht selbstverständlich ist und nicht weit verbreitet genug ist." Schmidl dankte Gruberová und den Schülern, dass sie sich der Situation vor Ort und den Gerichtsverfahren ausgesetzt hätten und "in diesem besonderen Fall für eine freie Gesellschaft Haltung bezogen haben".

Eva Gruberovás Biografie spiegle "gelebte Zivilcourage", so Schmidl. Die 53-jährige Journalistin und Buchautorin beschäftigt sich seit Jahren mit den Themen Antisemitismus, Rechtsextremismus sowie Geschichte des Nationalsozialismus. Sie arbeitet unter anderem für Rias, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus. Diese nimmt Meldungen über antisemitische Vorfälle auf und unterstützt Betroffene von Antisemitismus. In ihrer Rede im Dachauer Rathaus sagte sie, sie freue sich, dass sie den Preis mit den Schülern und dem Lehrer teilen dürfe. Die Jugendlichen seien an dem Tag im Februar 2019 zum ersten Mal in einer KZ-Gedenkstätte gewesen. Sie hätten weder zuhause noch in der Schule auf eine Konfrontation mit einem Rechtsextremen vorbereitet werden können. Dennoch hätten die Schüler intuitiv das getan, was notwendig war: Sie hätten Nerling als Gruppe "Paroli geboten", auch wenn die Situation beängstigend gewesen sei. "Aber Mut zu haben bedeutet nicht, keine Angst zu haben, sondern über sie hinauszuwachsen, um das Richtige zu tun."

Das Unwissen über die NS-Vergangenheit spiegelt sich auch auf Corona-Demos wider

Gruberová hatte Nerling wenige Wochen vor seinem Auftritt in Dachau bei einer rechtsextremen Demo in Bielefeld gesehen, die sie damals für eine Buchrecherche beobachtet hatte. Die Nachricht, dass auch sie den Dachau-Preis für Zivilcourage erhalten solle, habe sie mit Blick auf die früheren Preisträger in Verlegenheit gebracht, sagte Gruberová. "Für mich war mein Einschreiten gegen Nikolai Nerling und seinen Kameramann eine Selbstverständlichkeit." Gruberová verwies darauf, dass der Vorfall in Dachau kein Einzelfall gewesen sei. Gedenkstätten bekämen die wachsende Radikalisierung sowie den Rechtsruck der Gesellschaft immer häufiger zu spüren. Außerhalb der Gedenkstätten werde aber viel zu wenig wahrgenommen, wie gefährdet diese seien. Doch man dürfe nicht nur auf den Rechtsextremismus schauen, sondern müsse auch Alltagsantisemitismus und -rassismus im Blick haben. Dafür fehle aber bei der demokratischen Mehrheit das Problembewusstsein. Das Unwissen über die Shoah und die NS-Vergangenheit spiegle sich derzeit auch auf den Demos gegen die Corona-Maßnahmen wider, wenn sich Corona-Leugner etwa sogenannte Judensterne anheften würden. "Wir müssen viel besser als bisher über die aktuellen Formen des Antisemitismus aufklären, die sich häufig mit vermeintlich harmlosen Chiffren und Codes tarnen", forderte Gruberová. Zudem sei es wichtig, vor allem an Schulen ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, "in dem jeder weiß, wie wichtig es ist, Haltung zu zeigen".

Genau das haben die Schüler des Gymnasiums Kirchseeon getan. Aila Lachmayer und Lilly Westphalen traten am Freitag stellvertretend für ihre Klassenkameraden ans Rednerpult. Leider sei völkisches Gedankengut ein Teil der Gesellschaft, sagten sie. "Unser Handeln sollte deshalb eine Selbstverständlichkeit sein." Abschließend zitierten sie aus der Rede der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich ihres Großes Zapfenstreiches: Überall da, wo wissenschaftliche Erkenntnis geleugnet, Verschwörungstheorien und Hetze verbreitet würden, müsse Widerspruch laut werden. "Unsere Demokratie lebt auch davon, dass überall da, wo Hass und Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen erachtet werden, unsere Toleranz als Demokratinnen und Demokraten ihre Grenze finden muss."

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