Gedenken an Opfer der Pogromnacht:Gegen die Gleichgültigkeit

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Rund 200 Menschen nehmen an der Gedenkveranstaltung der DGB-Jugend für die Opfer der Novemberpogrome teil. (Foto: Toni Heigl)

Der Deutsche Gewerkschaftsbund erinnert in der KZ-Gedenkstätte Dachau an die Opfer der Novemberpogrome. Mit Blick auf die Gegenwart fordert die Vorsitzende Yasmin Fahimi, gegen Hass, Hetze und Geschichtsvergessenheit aufzustehen.

Von Walter Gierlich, Dachau

„Erinnern heißt kämpfen“ – unter dieses Motto stellt die Jugend des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) seit Jahrzehnten ihr Gedenken an die Novemberpogrome 1938. Und so betont Anna Gmeiner, Bezirkssekretärin der DGB-Jugend Bayern, dass das Gedenken für sie und ihre Mitstreiter Pflicht sei, ebenso wichtig sei es heute aber, entschlossen gegen nationalistische und demokratiefeindliche Tendenzen aufzutreten. Und auch die Hauptrednerin der Veranstaltung, die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi, erklärt: „Erinnerung ist wichtig, um die Lehren für unser politisches Handeln in der Gegenwart zu ziehen.“

Man hätte sich daher vor dem Hintergrund der momentanen politischen Lage mehr als die gut 200 Menschen gewünscht, die sich an diesem trüben und kalten Sonntagnachmittag auf dem ehemaligen Appellplatz in der KZ-Gedenkstätte versammeln. Anna Gmeiner zitiert aus Bertolt Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ So schlimm wie damals, als Brecht diese Zeilen im Exil schrieb, sei es heutzutage nicht, sagt sie. Doch angesichts von Remigrationsplänen und Wahlerfolgen von Rechtspopulisten in Ostdeutschland, Österreich, bei der Europawahl und in den USA „sind wir gefordert, für eine offene und demokratische Gesellschaft einzustehen. Nie wieder ist eine Mahnung: nie wieder wegschauen, nie wieder schweigen.“ Gefordert sei vielmehr: „Haltung zeigen, aufstehen, widersprechen.“

Niemals gleichgültig sein gegenüber dem Schicksal von Menschen

Dann ziehen die Teilnehmer der Gedenkfeier über die Lagerstraße in Richtung des einstigen Krematoriums. Bei einem Stopp stellen die jungen Gewerkschafter Jakob Nauss und Lea Dahms zwei Menschen vor, die wegen ihres Widerstands gegen das NS-Regime ins Konzentrationslager Dachau verschleppt wurden: Zuerst spricht Jakob Nauss, ein Nachfahre des namensgleichen Mannes, der damals nach der KZ-Haft im Krieg kämpfen musste und fiel. Die zweite, von Lea Dahms vorgestellte Widerstandskämpferin, war die Niederländerin Mary Vaders, die mit ihren Mitgefangenen im Januar 1945 einen Streik in den AGFA-Werken organisierte, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten. Sie schrieb in ihrer Haft sogar Lyrik.

Diese beiden Häftlinge stünden stellvertretend für die vielen Menschen, die im KZ Dachau gelitten hätten, „ihrer Freiheit und Würde beraubt, frierend auf dem sogenannten Appellplatz, ständig von Willkür, Folter und Tod bedroht“, erklärt die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi in ihrer Rede vor dem ehemaligen Krematorium. Umso mehr berühre sie eine Zeile aus Vaders Streikgedicht: „Es reicht, uns ist nicht angst und bange.“ Es gilt, wachsam zu bleiben bei jedem Versuch, Menschen ihrer Würde zu berauben, selbst wenn das nur in Worten geschieht, mahnt Fahimi.

„Es liegt in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Würde aller Menschen unantastbar bleibt“, sagt Yasmin Fahimi, Vorsitzende des DGB. (Foto: Toni Heigl)

Die DGB-Chefin erinnert daran, dass nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 mehr als 11 000 jüdische Männer ins KZ Dachau gebracht wurden. „Hier wurden die Menschen misshandelt und erpresst – ein Ziel war es, sie zur Aufgabe ihres Vermögens und zur Emigration zu zwingen.“ Von angeblich spontanem „Volkszorn“ sprach die NS-Propaganda, als SA- und SS-Männer mehr als 1400 Synagogen und Betstuben sowie 7500 Geschäfte zerstörten, in Wohnungen jüdischer Mitbürger eindrangen, diese demolierten und die Bewohner öffentlich demütigten. Bis heute, betont Fahimi, gingen die Einschätzungen auseinander, inwieweit die Mehrheitsgesellschaft diese inszenierten Angriffe unterstützt oder ausgenutzt habe. Sie zitiert dazu den Historiker Hans Mommsen. Dieser spricht von einer „antisemitischen Grundstimmung, die mindestens beim gehobenen Bürgertum überwog“. Sicher sei, „dass sich die meisten Menschen zumindest passiv bis gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Juden verhalten haben“.

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Schon fünf Jahre vorher habe das Regime begonnen, jüdische Menschen ihrer staatsbürgerlichen Rechte zu berauben, aber auch Gewerkschaften zu zerschlagen. Hatte sich die Gesellschaft seither daran gewöhnt, „dass Recht und Gesetz nach ideologischer Willkür verbogen wurden?“, fragt Fahimi. Oder war es der Mehrheit schlicht egal, weil sie nicht betroffen war? Dieser rechtsfreie Raum habe jedenfalls den 9. November 1938 erst ermöglicht.

„Bedenkt: Wir sind alle Menschen“

Was ist heute zu tun? Da man wisse, dass Passivität und Gleichgültigkeit der Mehrheitsgesellschaft ausreichen, um solche Katastrophen geschehen zu lassen, so Fahimi, müssen wir „alles tun, damit niemand passiv und gleichgültig gegenüber dem Schicksal anderer Menschen ist“. Das sei ganz im Sinne der 103 Jahre alten Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer, die beharrlich mahne: „Bedenkt, wir sind alle Menschen.“ Fahimis Schlussfolgerung: „Es liegt in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Würde aller Menschen unantastbar bleibt. Egal, wo sie leben oder aus welchem Land sie zu uns kommen. Egal, ob sie an einen Gott glauben und wenn ja, an welchen. Egal, wen sie lieben. Egal, wenn sie arm sind.“ Das sei die Solidarität, auf die man bauen müsse.

Solidarität allein reiche aber nicht, wenn man es mit Rassisten und Antisemiten zu tun habe, die spaltende und menschenverachtende Ziele hätten, die bereit seien, Gewalt, Bürgerkrieg und Umsturz zu planen, sagt Fahimi mit Blick auf die vor wenigen Tagen verhafteten Mitglieder der Terrorgruppe „Sächsische Separatisten“. „Nie wieder“ bedeute jetzt, dass die Mehrheitsgesellschaft aufstehen müsse gegen Hass, Hetze und Geschichtsvergessenheit. Fahimi lobt in diesem Zusammenhang die DGB-Jugend, die seit 1952 zum Gedenken an die Pogromnacht aufruft. Damals seien viele Menschen „schon wieder oder immer noch gleichgültig und passiv gewesen“ und hätten von Konzentrationslagern angeblich nichts gewusst und sich nicht befreit, sondern erledigt gefühlt. Wenn jetzt die Leitidee „Erinnern heißt kämpfen“ sei, gehe es um einen Kampf um die Köpfe, um Lernen und darum, Verständnis zu schaffen für die Demokratie. „Es ist aber ebenso ein Kampf um die Herzen. Ein Kampf für ein gutes und friedvolles Zusammenleben und gegen die Gleichgültigkeit.“

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