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Gedenken an Novemberpogrome:"Heute ist ein Tag, an dem man die Erinnerung bürsten muss"

Auch in Karlsfeld wird an die Novemberpogrome von 1938 erinnert. Die Gemeinde und der jüdische Verein "Jad B' Jad" luden zu einer Gedenkveranstaltung und einem Gottesdienst mit dem Berliner Rabbiner Baruch ben Mordechai Kogan ein - dabei stand auch der Krieg in der Ukraine im Fokus.

Von Ayça Balcı, Karlsfeld

Beim Gedenken an die Novemberpogrome ist in diesem Jahr etwas anders. Während an die Nacht des 9. November 1938 gedacht wird, in der die systematische Vertreibung, Verfolgung und Ermordung von Millionen von Juden und Jüdinnen begann, und in zahlreichen Städten und Gemeinden Gedenkveranstaltungen unter dem Motto "Nie wieder" stattfinden, herrscht in der Ukraine Krieg. Und so ist es kaum möglich, den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken, ohne dabei auch an die Ukrainer und Ukrainerinnen zu denken, die ihr Zuhause wegen des russischen Angriffskriegs verlassen mussten und es noch immer müssen.

So auch bei der Gedenkfeier in Karlsfeld, die der jüdische Verein "Jad B' Jad" seit 2017 veranstaltet. "Zivilcourage zu zeigen, kann schwierig sein", sagte Karlsfelds zweiter Bürgermeister, Stefan Handl (CSU). Er eröffnete das gemeinsame Gedenken im Bürgertreff. "Wir alle sind in diesen Zeiten mehr denn je dazu aufgefordert." Denn der Krieg in der Ukraine zeige auf dramatischer Weise, dass nichts sicher und alles möglich sei. "Wir in Karlsfeld können die Welt zwar nicht retten, wir können aber in unserem persönlichen Umfeld viel tun und einen Beitrag zu unserem Zusammenleben leisten", so Handl. Wichtig sei ihm der Respekt vor allen Menschen, allen Religionen und ihren verschiedenen Strömungen - und die Hilfsbereitschaft für Menschen in Not.

Der Berliner Rabbiner Baruch ben Mordechai Kogan, der wie schon in den vergangenen Jahren nach Karlsfeld gekommen war, um den Gedenkgottesdienst zu halten, hat eine besondere Verbindung zur Ukraine. Er ist in der Hafenstadt Odessa aufgewachsen und hat dort Judenfeindlichkeit erlebt. "Meine Mutter liebte diese Stadt, aber ich erinnere mich an den Antisemitismus", erzählte der Rabbiner. 1972, als er noch ein kleiner Junge war, verließ er Odessa mit einem Teil seiner Familie und wanderte nach Israel aus.

Erinnerungen aus der Opferperspektive werden weniger

Wie erinnern wir an die Gräueltaten der Nationalsozialisten und an die sechs Millionen ermordeten Juden? Diese Frage stellt sich an Jahrestagen wie dem 9. November immer wieder aufs Neue. In erster Linie, so der Rabbiner Kogan, sei das wiederholte Erinnern wichtig, denn der Mensch erinnere sich nun mal nicht gerne an Fehler. "Heute ist ein Tag, an dem man die Erinnerung bürsten muss", findet Kogan und aus den Stuhlreihen im Karlsfelder Bürgertreff wird ergänzt: "am besten mit einer Wurzelbürste." Der Berliner Rabbi stellt außerdem die Frage in den Raum: "Erinnern wir uns ausreichend aus der Perspektive der Opfer?"

Zeitzeugen des Holocausts werden immer weniger - das bedauert auch Josef Enthofer, Diakon des katholischen Pfarrverbands in Karlsfeld, denn niemand könne ihre Erfahrungen und die damit verbundenen Gedanken und Gefühle so übermitteln wie sie selbst. Deshalb las der Diakon an diesem Abend aus den Memoiren von Eddie Jaku vor. Jaku überlebte die Konzentrationslager Buchenwald und Auschwitz, wo seine Eltern ermordet wurden. Im vergangenen Jahr starb er im Alter von 101 Jahren in Australien. In seinen Memoiren bezeichnet er sich trotz seiner schlimmen Erlebnisse als den "glücklichsten Mensch der Welt".

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