Gedenken an den Todesmarsch 1945:Eine immerwährende Aufgabe

Gedenken an den Todesmarsch 1945: Teilnehmer des Stationen-Weges legen am Todesmarsch-Mahnmal in Karlsfeld Blumen nieder.

Teilnehmer des Stationen-Weges legen am Todesmarsch-Mahnmal in Karlsfeld Blumen nieder.

(Foto: Toni Heigl)

Vor 70 Jahren trieb die SS etwa 7000 KZ-Häftlinge auf einen Todesmarsch, den Tausende nicht überlebten. Etwa 250 Menschen aus Dachau und der Münchner Region gedenken der Opfer in den letzten Kriegstagen.

Von Anna-Sophia Lang, Dachau/Karlsfeld

Am Ende des Gedenkmarsches, in der Karlsfelder Korneliuskirche, spricht Irmgard Schmidt, eine zierliche alte Münchnerin. Sie steht ein wenig wackelig am Rednerpult, sagt aber mit fester Stimme: "Das Erinnern ist unsere immerwährende Aufgabe." Etwa 250 Teilnehmer des Stationen-Wegs, den Pfarrer Björn Mensing von der evangelischen Versöhnungskirche organisierte, wollen der 7000 KZ-Häftlinge gedenken, die in der Nacht zum 26. April 1945, drei Tage vor der Befreiung der Überlebenden, von der SS auf einen Todesmarsch getrieben wurden.

Zwischen 1000 und 3000 Menschen überlebten laut Mensing nicht. Stundenlang mussten die entkräfteten und fast verhungerten Menschen auf dem ehemaligen Appellplatz ausharren. Spätabends setzte sich die Kolonne in Marsch. Die Häftlinge, die zum Teil aus den KZ-Außenlagern kamen, wussten nicht, wohin die SS sie bringen wollte. "Zwangsevakuierung", hieß es. Die Hoffnung, bald von näher rückenden amerikanischen Truppen befreit zu werden, war jedenfalls dahin. "Wie eine vom Blitz getroffene Eiche", schrieb der Häftling Karl Adolf Gross vor 70 Jahren in sein Tagebuch.

Gedenken an den Todesmarsch 1945: Schüler des Ignaz-Taschner-Gymnasiums lesen in der Evangelischen Versöhnungskirche Texte von Überlebenden des Todesmarsches.

Schüler des Ignaz-Taschner-Gymnasiums lesen in der Evangelischen Versöhnungskirche Texte von Überlebenden des Todesmarsches.

(Foto: Toni Heigl)

In der Evangelischen Versöhnungskirche haben sich zum Beginn des Gedenkmarsches um 14.30 Uhr auch Überlebende versammelt. Karl Rom ist mit seiner Familie gekommen. Auch Erzherzog Franz von Bayern, der mit seiner Familie als "Sippenhäftling" im KZ Dachau gefangen gehalten wurde, ist da. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, ist unter den Gästen. Und natürlich Max Mannheimer, Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees und Vorsitzender der Lagergemeinschaft. Er wurde am 26. April mit anderen Häftlingen aus dem Lager Mettenheim, das zum Außenlager Mühldorf gehörte, in Zugwaggons getrieben. Etwa 20 Kilometer östlich von München, bei Poing, wurde der Zug von Alliierten bombardiert. Während sich die SS-Wachen in Sicherheit brachte, warfen die Häftlinge Kleidungsstücke auf das Zugdach, in der Hoffnung, dass die Angreifer erkennen, wer sich da in den Zügen befindet.

Der Auschwitz-Überlebende Max Mannheimer ist 95, er hat mehr erlebt als in ein Menschenleben passt. Er wirkt zerbrechlich, seine Stimme ist leise. Und doch steht er da aufrecht am Rednerpult in der Versöhnungskirche und erzählt klar von seinen letzten Tagen als Gefangener. Er erinnert an einen Leidensgefährten, der fünf Jahre in KZ-Haft war. "Nun war er kurz vor Kriegsende von einem Bordgeschoss aus einem der Flugzeuge getötet worden", erzählt Mannheimer. "Ein sinnloser Tod mehr."

Im Rollstuhl wird Max Mannheimer dann über die ehemalige Lagerstraße zum Jourhaus geschoben. Schweigend gehen vor und hinter ihm die Menschen. Sie sind aus Dachau und der ganzen Region gekommen. Das Läuten der Gedächtnisglocke begleitet sie. Vorbei am Todesmarsch-Mahnmal in der Theodor-Heuss-Straße und der Asylbewerberunterkunft in der Kufsteiner Straße ziehen die Menschen unter einem wolkenlosen Himmel dahin. Es ist ungefähr der gleiche Weg, auf dem sich die Häftlinge 1945 dahinschleppten. Aber was heißt das schon: Niemand kann sich ihr Leid und ihre Angst vorstellen, auch nur annähernd nachempfinden. Es sind gerade einmal sieben Kilometer, seit der Zug die KZ-Gedenkstätte verlassen hat. Hier, am Karlsfelder Todesmarsch-Mahnmal, ist der Stationen-Weg um 18 Uhr zu Ende. Die Häftlinge hatten bis dahin gerade einmal einen Bruchteil der Strecke zurückgelegt. Mehr als 33 Kilometer weit mussten sie sich schleppen, bis nach Leutstetten bei Starnberg. Um elf Uhr vormittags durften sie zum ersten Mal anhalten. Hunderte waren zurückgeblieben, zusammengebrochen und von SS-Männern, die die Elenden mit Hunden antrieben, erschossen worden. "Wir stolperten über Menschen, die zusammengebrochen sind", schrieb Heinrich Pakullis, von dem in der Versöhnungskirche Texte vorgelesen wurden. "Noch sind es nur Ohnmächtige. Aber bald sehen wir auch die ersten Toten. Nur wenig Blut; ein kleiner blutiger Fleck auf der Stirn, aber im Nacken ein großes Loch."

Gedenken an den Todesmarsch 1945: Zum Abschluss erzählt Irmgard Schmidt, wie sie als 16-Jährige in Pasing den Häftlingen auf dem Todesmarsch begegnete.

Zum Abschluss erzählt Irmgard Schmidt, wie sie als 16-Jährige in Pasing den Häftlingen auf dem Todesmarsch begegnete.

(Foto: Toni Heigl)

Ein paar Kilometer entfernt in Pasing war vor 70 Jahren die 16-jährige Irmgard Schmidt gerade auf dem Weg zur Schule. Auf der Pippinger Straße begegnete sie dem Marsch der Häftlinge. "Das habe ich nicht gewusst, dass es möglich ist, Menschen so zu reduzieren zu bloßen Schattengestalten", liest sie in der Korneliuskirche aus ihren Erinnerungen, die sie vor elf Jahren aufgeschrieben hat. "Nie zuvor habe ich eine solche Vernichtung von menschlichem Sein wahrgenommen. Das ist Dachau; so ist es also, wovon wir gehört, aber keine Vorstellung hatten."

60 Jahre hat es gedauert, bis sich Irmgard Schmidt diesen Erinnerungen stellte. Viele Jahrzehnte lang hat sie überhaupt nicht mehr an das gedacht, was sie am 27. April 1945 gesehen hatte. Die jungen Deutschen von damals seien eine allein gelassene Generation gewesen, sagt sie. "Zuerst sind sie, unsere Eltern, Großeltern und Lehrer, uns die Antwort schuldig geblieben. Und dann haben sie das Vergessen gefördert." Heute wünscht sie sich, wie sie erklärt, dass alle eine Sprache gefunden hätten für das Erlebte. Um daraus Visionen für die Zukunft zu schaffen, letztendlich auch für die Zukunft des Gedenkens. Sie kritisiert eine Gedenkkultur, die von staatlichen Stellen gelenkt und manchmal sogar politisch instrumentalisiert werde.

Nach dem Gedenkmarsch erholen sich die Teilnehmer in der kühlen Korneliuskirche. Helfer haben Wasser für die müden Zugteilnehmer bereit gestellt. "Die Menschen müssen das Erinnern miteinander teilen", sagt Irmgard Schmidt.

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