Süddeutsche Zeitung

Abschiebung:"Das Verhalten des Landratsamts Dachau ist auffällig"

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Die Seebrücke Dachau wirft den Behörden vor, die Aufklärung im Fall der abgeschobenen Familie Esiovwa aus Karlsfeld zu behindern. Laut dem SPD-Bundestagsabgeordneten Michael Schrodi hätte die Familie vom neuen Chancenaufenthaltsrecht profitieren können.

Von Ayça Balcı, Dachau

Seitdem die fünfköpfige Familie Esiovwa mitten in der Nacht aus Karlsfeld nach Nigeria abgeschoben wurde, sind mehr als drei Monate vergangen. Und noch immer sind zahlreiche Fragen offen: Warum wurde eine Familie, die seit Jahren im Landkreis Dachau lebte, deren Eltern beide krank sind, der Sohn behindert, mitten in der Nacht abgeholt und abgeschoben? Warum wurde die Arbeitserlaubnis des Vaters nicht verlängert, obwohl er schon seit Jahren in einem Hotel in Ottobrunn arbeitete und sein Arbeitgeber ihn auch weiterbeschäftigen wollte? Und warum konnte auch die Mutter am 12. Juli abgeschoben werden, obwohl am nächsten Tag ein wichtiger Arzttermin wegen eines zuvor festgestellten Tumors stattgefunden hätte?

Das sind nur einige wenige Fragen, die sich die Seebrücke Dachau stellt. Die Organisation beschäftigt sich mit der Aufklärung des Falls Esiovwa. Vor allem frage man sich dort, warum die Behörden - sowohl das Landesamt für Asyl und Rückführungen (LfAR) als auch das Landratsamt Dachau - die Aufklärung der Abschiebung behindern, indem sie zu wichtigen Details des Falls schweigen: Das sagt zumindest Martin Modlinger, der Sprecher der Seebrücke Dachau. Seine Organisation habe bei den Behörden Informationen und Dokumente angefordert, insbesondere zu den Umständen der Abschiebung mitten in der Nacht. Doch das Landesamt für Asyl und Rückführungen, das für die Durchführung der Abschiebungen zuständig ist, wehre sich gegen die Auskunftspflicht und lege stattdessen nur einseitig Informationen offen: "Von Seiten der Behörden sucht man sich genau die Informationen heraus, die die Abschiebung korrekt aussehen lassen", sagt Modlinger: "Sie machen aber nicht überprüfbar, ob es überhaupt stimmt, was da gesagt wird." Das betreffe vor allem das LfAR, aber auch vom Innenministerium sowie von Landratsamt Dachau käme eine "ähnlich schweigende Ablehnung".

Laut der Seebrücke schweigen und mauern die Behörden zur Abschiebung der Familie Esiovwa

Geradezu absurd erscheine außerdem ein Schreiben des LfAR mit der Behauptung, dass es durch die Auskunftsverweigerung die Interessen der abgeschobenen Familie schütze, so heißt es in einer Pressemitteilung der Seebrücke. Nach dem Bayerischen Informationsfreiheitsgesetz müsse ein berechtigtes Interesse vorgewiesen werden, um entsprechende Informationen zu erhalten, argumentiert das Landesamt. "Das Interesse ist bei einer Menschenrechtsorganisation wie der Seebrücke eigentlich klar und eine schriftliche Einwilligung der Familie haben wir auch", sagt Modlinger. Und trotzdem beharre das LfAR auf seinem Standpunkt, dass die Familie Esiovwa etwas dagegen haben könnte, dass Informationen zu ihrer Abschiebung veröffentlicht werden und erklärt daher im Sinne der Familie zu handeln.

Parallel dazu konnten Vertreter der Seebrücke im Landratsamt Dachau einige Akten zu dem Fall einsehen: "Aber es wurden uns nicht alle Akten gezeigt", so Modlinger: "Die Einsicht in jene Akten, die sich konkret auf die Vorgänge der nächtlichen Abschiebung beziehen, wurde uns mit dem Verweis darauf, sei seien geheim, verweigert". Gleichzeitig rücke das Landratsamt "kleine Informationsbruchstücke" heraus, die es im guten Licht dastehen lasse: Zum Beispiel die Information, dass der Familie bei der Abschiebung Medikamente mitgegeben wurden. "Aber ob die Medikamente ausreichend waren, ob sich überhaupt irgendjemand in der Nacht Atteste angeschaut, Gesundheitsüberprüfungen durchgeführt oder die Kinder begutachtet hat, das alles ist völlig unklar", sagt Modlinger.

Auf Anfrage teilt das Landratsamt Dachau das Gegenteil mit: Nach der Abschiebung habe eine "vollumfängliche Akteneinsicht" stattgefunden. Dabei wurden keine Anhaltspunkte für ein rechtswidriges Verfahren festgestellt - dies hätte auch im Rahmen eines verwaltungsrechtlichen Verfahren geprüft werden können, erklärt das Landratsamt.

Aufklärungsarbeit soll zeigen, welche Möglichkeiten es für die Familie noch gibt

Um die Abschiebung verstehen zu können, so der Sprecher der Dachauer Seebrücke, brauche es eine transparente Einsicht in den gesamten Prozess: "Vom Entzug der Arbeitserlaubnis, der Duldung über die konkrete Abschiebeaufforderung bis hin zur Beachtung oder Nicht-Beachtung der Gesundheitszustände und des Schicksals der Kinder." Das Ziel der Aufklärungsarbeit sei, so Modlinger, für und mit der Familie herauszufinden, welche Möglichkeiten es noch gegeben hätte und welche der Familie möglicherweise verwehrt worden sind. "Erst mit dieser Klarheit werden wir wissen, was man überhaupt noch machen könnte."

Laut dem Bundestagsabgeordneten Michael Schrodi (SPD) wäre eine dieser Möglichkeiten das neue Chancenaufenthaltsrecht gewesen. Über den Gesetzentwurf, der schon seit Anfang Juli vorliegt, hat sich der Bundestag in der vergangenen Woche erstmals beraten. Schrodi beschreibt das Recht als ein "einjähriges Aufenthaltsrecht auf Probe", das "gut integrierten Menschen endlich eine Bleibeperspektive und einen Weg aus den unsicheren Kettenduldungen eröffnet." Das neue Chancenaufenthaltsrecht richtet sich an Menschen, die bis zum 1. Januar 2022 seit fünf Jahren mit Duldung, Gestattung oder Aufenthaltserlaubnis in Deutschland leben. Sie erhalten ein Jahr Zeit, um die Voraussetzungen für ein reguläres Bleibrecht zu erfüllen.

Das neue Chancenaufenthaltsrecht weist Lücken auf

Fakt sei, so Schrodi, dass die Familie Esiovwa unter das aktuelle Chancenaufenthaltsrecht hätte fallen können, "wenn das Landratsamt Dachau sie nicht im Juli 2022 in einer inhumanen Nachtaktion abgeschoben hätte". Im Landratsamt sieht man das anders. Die Familie falle nicht in den Anwendungsbereich der aktuellen Version der Regelung. Das habe auch Joachim Jacob, Sprecher der Helferkreise im Landkreis Dachau, mehrmals bestätigt. Auf Anfrage erklärt Jacob, dass das neue Chancenaufenthaltsrecht durchaus zu kritisieren sei, weil es viele Lücken und Nebenbedingungen habe, sodass es nur auf die wenigsten Menschen zutreffe. Auch die Familie Esiovwa falle durch das Raster, unter anderem weil ihnen die Duldung entzogen wurde.

Eines macht der Flüchtlingshelfer aber trotzdem deutlich: "Aus meiner Sicht hätte die Familie nicht abgeschoben werden dürfen - sie hätte aus humanitären Gründen ein Visum erhalten müssen." Auch wenn die aktuelle Regelung nicht auf die abgeschobene Familie zutreffe, sei zu kritisieren, "dass das Landratsamt sie nicht als einen humanitären Fall behandelt, sondern sich einfach auf das Chancenaufenthaltsrecht gestützt" habe.

Nachdem die Ampel-Regierung die Eckpunkte für das entsprechende Gesetz bereits im Koalitionsvertrag Ende November 2021 festgelegt hatte, hatten zahlreiche Bundesländer die Abschiebungen für Personen ausgesetzt, auf die das Chancenaufenthaltsrecht zutreffen könnte. In einer Pressemitteilung erklärt Schrodi, dass das in Bayern und im Landkreis Dachau jedoch anders gelaufen sei. Mit der Ausstellung einer Grenzübertrittsbescheinigung sei die Möglichkeit geschaffen worden, Personen, die vom Chancenaufenthaltsrecht profitieren würden, schnell abzuschieben. Mit der Aushändigung einer solchen Grenzübertrittsbescheinigung werden Betroffene zu einem festgelegten Termin ausreisepflichtig, ihre Duldung erlischt damit.

Im Falle der Familie Esiovwa sei die Grenzübertrittsbescheinigung allerdings "ungewöhnlich häufig" über sieben Monate hinweg verlängert worden. "Das Verhalten des Landratsamts Dachau ist auffällig", sagt Schrodi. Auch Martin Modlinger von der Seebrücke Dachau merkt an, dass es zumindest in anderen Bundesländern die etablierte Praxis sei, wieder eine Duldung auszustellen, wenn die Grenzübertrittsbescheinigung mehr als zweimal verlängert wird. Warum das im Fall der Familie Esiovwa nicht passiert ist, sei völlig unverständlich, so Modlinger.

In seiner Stellungnahme macht das Landratsamt Dachau deutlich, dass man diese Ansichten nicht nachvollziehen könne. Stattdessen wird darauf hingewiesen, dass eine Duldung nur bei Vorlage der gesetzlich geregelten Voraussetzungen erfolgen könne - die allerdings bei der Familie Esiovwa nicht vorgelegen hätten. Neben all den offenen Fragen bleibt für Joachim Jacob noch die wichtigste unbeantwortet, nämlich wie der Familie jetzt geholfen werden kann. "Sie müsste jetzt eigentlich ein humanitäres Visum erhalten und zurückkehren dürfen."

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