Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Influencer im Landkreis, Folge 3:"Ich hoffe, Menschen zu helfen, mit Unsicherheiten umzugehen"

Angefangen hat Annika Gerhard mit Parodievideos auf ihrem Youtube-Kanal "Annikazion". Mittlerweile ist die Dachauerin auch auf Instagram, und Tiktok aktiv und spricht neben all den Witzen auch viele ernste Themen an.

Von Eva Waltl, Dachau

Ihre unterhaltsamen Parodievideos nimmt Annika Gerhard in ihrem WG-Zimmer auf. Im Hintergrund hängen Pflanzen und an den Wänden bunte Poster in verschiedenen Größen. Die 23-jährige Dachauerin trägt eine schwarze Mütze und eine runde Brille, im Schneidersitz sitzt sie auf dem Schreibtischstuhl und spricht mit klarer Stimme in die Kamera. Zwischen 500 000 und 1,5 Millionen Aufrufe zählt ein Beitrag auf ihrem Youtube-Kanal "Annikazion". Zwischen die Zeilen packt sie moralische Botschaften und Gesellschaftskritik - mit einem Augenzwinkern und Grimassen.

Annika nimmt verschiedene TV-Formate auf die Schippe. Sie sieht sich beispielsweise eine Folge "Love Island", "Mädchen-WG" oder "Germany's next Topmodel" an und kommentiert diese anschließend in einem eigenen Video. Große Vorbereitungen bedürfe das nicht, erzählt sie. Einige wenige Notizen dienen ihr als Skript, der Rest ist improvisiert. "Wenn ich mir die Folge ansehe, habe ich den Witz schon im Kopf." Und dies ist die große Stärke der 23-Jährigen: Ihre Improvisationskunst, ihr Wortwitz, ihr Sarkasmus. Daneben besteht ihr Account auch aus Videos, die ihr alltägliches Leben zeigen. Wann immer etwas Unterhaltsames geschieht filmt, schneidet, veröffentlicht sie dies.

"Danach habe ich einfach weitergemacht"

Bereits während ihrer Schulzeit machte sich das Unterhaltungstalent der Dachauerin bemerkbar. "Ich war schon immer ein Klassenclown", sagt sie. In der Josef-Schwalber-Realschule in Dachau war sie Schulsprecherin und hat sich am Schulspiel versucht. "Ich war gerne in der Öffentlichkeit und habe gerne andere Menschen unterhalten." Youtube-Videos faszinierten sie, weil darin alles möglich war. In ihr wuchs die Idee, es eines Tages selbst zu versuchen. Zwei Jahre spukte der Gedanke eines eigenen Youtube-Kanals in ihrem Kopf herum. Mit 18 Jahren machte sie dann aus ihrem einstigen Traum ein ausgeklügeltes Geschäftskonzept. Ihr Erfolgsrezept: Nicht planen, sondern einfach mal machen. Bereits nach ihrem ersten Jahr als Youtuberin stieg die Zahl der Abonnenten auf 10 000, die ersten Einnahmen flatterten herein. Annika war damals 19 Jahre alt. "Oh, da kommt für ein Video auf einmal Geld rein", erinnert sie sich. "Danach habe ich einfach weitergemacht."

Heute ist der Youtube-Kanal ihre Haupteinnahmequelle, die im Durchschnitt achtminütigen Videos genügen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Seit kurzem lebt die gebürtige Dachauerin in München. "Ich kann mir mein WG-Zimmer leisten und meinen Lebensstil, der nicht besonders wild ist", fügt sie hinzu. Seit etwa zwei Jahren lebt sie von den Einnahmen "sorgenfrei": Youtube-Werbeeinnahmen, Produktplatzierungen auf Instagram und Youtube, Tagesgagen und Merchandise. Sie verkauft auf ihrem Online-Shop Tassen, Notizbücher und Pullis.

Der Youtube-Kanal "Annikazion" zählt 408 000 Abonnenten, ihr Instagram-Account mehr als 135 000. Sie schätzt die spezifischen Möglichkeiten, die die verschiedenen Plattformen bieten. "Instagram nutze ich für kurze Sketche und Fotos. Auf Youtube kann ich eine längere Geschichte erzählen." Vor der Verwendung der App Tiktok, die besonders unter Jugendlichen derzeit sehr beliebt ist, hat sie sich die längste Zeit versucht zu drücken. Ihr schien, als sei bei Tiktok "das Aussehen das Wichtigste, und es geht weniger um Witzigkeit oder Kreativität." Aber auch die 23-Jährige ist der Schnelllebigkeit von Social Media ausgeliefert, obwohl sie eine große Reichweite auf Youtube und Instagram hat. "Die Menschen, die mich abonnieren, werden älter und verbringen weniger Zeit auf Youtube", sagt die 23-Jährige. Es sei ihr aufgefallen, dass "weniger junge Leute nachrücken", die ihre Beiträge abrufen. Sie wagte sich daher in unbekanntes Tiktok-Gewässer und war überrascht, wie viel Spaß ihr die Plattform bereitet. "Ich gab der App eine Chance, lernte sie zu verstehen, und Menschen wurden auf mich aufmerksam", sagt sie. Man müsse mit den Trends gehen und Neues ausprobieren, um bestehen zu bleiben. "Das ist auch motivierend."

Sie sprach erstmals offen über ihre Homosexualität

Mit Blick in die Zukunft erkennt sie diese Veränderung und macht sich Gedanken, wie ihr Social-Media-Leben weitergehen wird. Sicherheit gibt ihr das große Wissen in den Bereichen Videobearbeitung, Fotografie und Produktion. "Ich konnte mir Fähigkeiten aneignen. Falls Youtube nicht mehr läuft, kann ich immer noch im Hintergrund für andere arbeiten."

Bis dahin nimmt sie weiter Videos auf und erschwert es dem Zuseher, ihre Stimme und ihr ulkiges Gequassel abzuschalten. Man hangelt sich von Video zu Video und bleibt dabei stets anspruchsvoll unterhalten, Annika ist authentisch und mutig. Dies schätzen auch ihre Abonnenten. Vor etwa zwei Jahren hat sich Annika in einem ihrer Videos geoutet. Sie sprach erstmals offen über ihre Homosexualität. Es war ihr wichtig, unterstützend Zuspruch zu geben und zu zeigen, dass man "normal mit dem Thema umgehen kann". Die Reaktionen ihrer Community seien durchweg positiv gewesen, erzählt Annika. "Ich kann von Glück sprechen." Sie fühlte sich sicher, das Thema mit ihren Abonnenten zu teilen: "Sie kennen meine Einstellung. Jemand, der extrem homophob ist, passt nicht zu meinen Werten und zu dem, was ich mit meinen Videos vermittle." Annika will zeigen, dass man sich nicht verstecken muss und dass man immer zu sich und seiner Sexualität stehen kann. Sie teilt ihre eigenen Erfahrungen in der Hoffnung, anderen Menschen Mut zu machen. Ihr selbst haben ebenfalls amerikanische Youtuberinnen einstweilen Mut gemacht. "Ich hoffe, nun Menschen zu helfen, mit Unsicherheiten umzugehen", sagt sie.

Dies sei eine der guten Seiten von Social Media. Influencer können auf gesellschaftliche Themen aufmerksam machen und erreichten in Windeseile eine große Anzahl von Menschen. Annika trägt dazu bei, dass soziale Medien diese Macht ein stückweit mehr ausüben. Sie hat längst erkannt, dass es für bestimmte Personengruppen, die schwächer sind, auch negativen Einfluss haben kann, wenn beispielsweise verzerrte Schönheitsideale propagiert werden. "In der Öffentlichkeit sind Negativbeispiele oft präsenter und man kann schnell Schlechtes über Influencer finden", sagt sie, aber, "es gibt auch viele Positivbeispiele." Annikas Profil ist eins davon.

In einer losen Serie stellt die SZ Dachau einflussreiche Persönlichkeiten des Landkreises vor, die auf sozialen Netzwerken eine große Reichweite und eine beträchtliche Zahl an Abonnenten erreicht haben. Was steckt hinter den regelmäßig veröffentlichten Bildern? In aufschlussreichen Gesprächen erzählen Influencer ihre individuelle Geschichte, sprechen über Erfahrungen mit Instagram und Co. und zeigen, dass mehr notwendig ist als fröhliche Hundefilter und glitzernde Spaßvideos.

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Quelle:
SZ vom 08.03.2021
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