Befreiung von Auschwitz:Im Zweifel für den Zweifel

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„Ich wollte nie der Jude Igor sein, sondern einfach nur Igor“, sagt Igor Levit. (Foto: Toni Heigl)

Der Pianist Igor Levit spricht am Holocaust-Gedenktag vor 400 Menschen im Dachauer Thoma-Haus und mahnt, für die Demokratie einzustehen. Ein Abend voller bedrückender Themen, Musik und jüdischen Witzen.

Von David Ammon, Dachau

Wer den prall gefüllten Konzertkalender des Pianisten Igor Levit kennt, dem erscheint es fast unwahrscheinlich, dass er zwischen einem Konzert in Amsterdam am Sonntag und einem Konzert am Dienstag in Erlangen an diesem Montagabend in Dachau auf der Bühne sitzt. Und doch ist er gekommen und spricht zusammen mit Thies Marsen, Journalist und Experte für Rechtsextremismus und Antisemitismus, vor rund 400 Menschen im Ludwig-Thoma-Haus.

Nach der Begrüßung durch Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) wendet sich Talya Lador-Fresher, Generalkonsulin des Staates Israel in München, an das Publikum. Der Holocaust sei „für Juden, Israelis und Deutsche Teil unseres kollektiven Gedächtnisses“ und präge unsere Weltanschauung, sagt sie. Besonders am 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz sei der Begriff des „Nie wieder“, den sowohl Deutsche als auch Israelis nutzen würden, zentral.

Ehrliche Ambivalenz, statt plakativer Lösungen

Diese Veranstaltung ist Sinnbild für die Veränderung, die die deutsche Erinnerungskultur gerade durchmacht. Waren es in den vergangenen Jahre noch Holocaustüberlebende, die am 27. Januar in Dachau sprachen, ist es in diesem Jahr anders. Igor Levit sagt, er habe keine Sekunde gezögert, die Anfrage aus Dachau anzunehmen. Aus dieser Stadt, deren Namen er in erster Linie mit dem ehemaligen Konzentrationslager verbinde.

Ambivalenz – das ist wohl das vorherrschende Gefühl dieses Abends. Igor Levit lässt das Publikum an seinen Gedanken teilhaben, die Emotionalität und Komplexität seiner Überlegungen sind deutlich zu spüren. Dabei ist es ein überaus ehrlicher, vielleicht auch realistischer Ansatz, der ihn zu leiten scheint: Es gelingt ihm, seine Gedanken darzulegen, ohne auch nur ansatzweise das Gefühl eines Absolutheitsanspruchs für Lösungen oder einfache Antworten für die ungeklärten Probleme und offenen Fragen zu vermitteln, die er selbst thematisiert.

Es sind keine plakativen, banalen Statements, die er setzt, auch zieht er keine monokausalen Schlüsse. Vielmehr wird deutlich: Es sind nachvollziehbare Zweifel und Nachdenklichkeit, die Ambivalenz bei so vielen aktuellen Themen, die im Laufe der Veranstaltung zur Sprache kommen. Von seinem Verhältnis als Jude zu Deutschland, über den wachsenden Einfluss rechtsextremer Kräfte, die Auswirkungen der Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober 2023, seinen Blick auf den Staat Israel bis zu der Frage, wie es weitergehen kann. Mitten in diese ernsten, teils bedrückenden Themen schafft es Levit, immer wieder die Stimmung aufzulockern, mit kleinen Scherzen, die das gespannt zuhörende Publikum zum Lachen bringen.

Igor Levit (l.) im Gespräch mit dem Journalisten Thies Marsen. (Foto: Toni Heigl)
400 Menschen kommen ins Thoma-Haus, um Igor Levit zu hören. (Foto: Toni Heigl)

Ganz besonders sind es jüdische Witze, die es ihm angetan haben und die er im Laufe des Abends immer wieder in seine Ausführungen einflicht. Etwa der Witz über einen jüdischen Optimisten und Pessimisten. Der Pessimist sagt, es könne alles gar nicht mehr schlimmer werden. Der Optimist entgegnet: „Natürlich kann es schlimmer werden.“ Auch da ist sie wieder, diese Ambivalenz: Einem Teil des Publikums entfährt ein Lachen, während es dem anderen Teil spürbar den Hals zuschnürt.

Levits Verhältnis zu seiner Religion und zu diesem Land, in das er als Achtjähriger kam, das bald für drei Jahrzehnte sein Zuhause ist, hat sich im Laufe der Zeit tiefgreifend verändert. „Ich wollte nie der Jude Igor sein, sondern einfach nur Igor“, sagt er. Als Kind, neu in Deutschland, wollte er dazugehören. Seine Vergangenheit und sein Jüdischsein hätten für ihn keine Rolle gespielt, er fühlte sich als Teil dieses Landes. Erst später sei für ihn diesbezüglich etwas ins Rutschen geraten. Der Auslöser dafür kam von Außen, ihm sei signalisiert worden, so richtig gehöre er nicht dazu, erzählt er.

„Wir Deutsche“ wird zu „Ihr Deutsche“

Mittlerweile seien es auch andere Dinge, wie das Erstarken rechtsextremer Kräfte in Deutschland, die ihn zunehmend von diesem Land entfremden und zweifeln lassen. Heute werde für ihn aus einem „Wir Deutsche“ immer mehr ein „Ihr Deutsche“, sagt er. Und das, obwohl er in diesem Land gerne lebe und es auch ein Stück weit gerne repräsentiere.

„Politische Realitäten können sich ändern“, sagt Levit im Hinblick auf Umfragewerte der in Teilen rechtsextremen AfD. „Jede Generation hat die Pflicht, Antisemitismus zu bekämpfen.“ Die Frage sei allerdings, ob die Instrumente der vergangenen 80 Jahre dafür noch ausreichen. „Wenn man dieses ’Nie wieder’ ins 21. Jahrhundert übersetzen will, müssen wir uns gewaltig anstrengen“, mahnt Levit.

Wenn es „in diesem Land zu einer Situation kommt, an dem jemand wie ich sagt, ich muss rennen“, bleibe nur ein „von Herzen kommender Rat“ für alle, die „an diese demokratische Gesellschaft und Artikel Eins des Grundgesetzes glauben“: „Rennt! Ihr kommt schneller in den Treibsand, als ihr schauen könnt.“ Damit es nicht so weit kommt, sei es nötig, mehr in die Auseinandersetzung und in den Diskurs zu gehen, Verantwortung zu übernehmen und nicht „hasenfüßig wegzulaufen“.

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Den Abend beendet Igor Levit auf eine für ihn sehr passende Art: Mit einem Stück auf dem Flügel, dem von ihm liebevoll genannten „kleinen Gerät“, der auf der Bühne bereitsteht. Nach diesen eineinhalb Stunden der vielen Worte, ist es ausgerechnet ein „Lied ohne Worte“, das Levit spontan auswählt. Als sei es eine metaphorische Zusammenfassung dieser bewegenden Stunden – das Bild der Sprachlosigkeit und der manchmal fehlenden Worte angesichts der intensiven Weltlage. Und ebenfalls passend: Es war Felix Mendelssohn Bartholdy, der das kurze Stück schrieb – auch er ein jüdischer Musiker. Die Nationalsozialisten versuchten einst, sein musikalisches Erbe zu zerstören; sie verboten seine Musik.

Igor Levit verabschiedet sich mit seiner ganz eigenen, lockeren, dem Publikum zutiefst verbundenen und berührenden Art des Klavierspiels und bringt die Anwesenden noch einmal zum Staunen. Die danken es ihm mit begeistertem Applaus und Standing Ovations.

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