Süddeutsche Zeitung

Kultur in Dachau:Unheimliche Heimat

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Das neue Buch von Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler beinhaltet sechs historische Fallstudien, die deutlich machen, dass die als Idylle und als Sehnsuchtsort beschworene Heimat vor allem eines ist: ein Albtraum.

Von Helmut Zeller, Dachau

"Nicht ums Verrecken", sagte der Kabarettist Gerhard Polt einmal, würde er im Heimatministerium von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) arbeiten wollen. Da fällt einem sogleich das "Ministerium für Wahrheit" in George Orwells dystopischen Roman "1984" ein, das für die allumfassende Vereinnahmung der Gehirne durch die Lüge zuständig war. Das Polt'sche Diktum ist nachvollziehbar, ist doch der politische Heimatbegriff ein Konstrukt und ein verlogenes obendrein. Der Schriftsteller und Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler ist in seinem neuen Buch "Heimat und Gewalt" dem Janusgesicht dieses Konstrukts nachgegangen - sechs historische Fallstudien aus Oberbayern machen deutlich, dass die als Idylle und als Sehnsuchtsort beschworene Heimat vor allem eines ist: ein Albtraum. Und das sicherlich nicht nur in Oberbayern. Nun fällt Göttler, ein streitbarer Heimatpfleger, selbstredend seiner Heimat nicht in den Rücken, auch beabsichtigt er keinesfalls eine Herabwürdigung heimatlicher Lebensgefühle. Im Gegenteil: Er schreibt dagegen an, dass "Heimat" wieder zum politischen Kampfbegriff gemacht wird.

Diese Entwicklung ist gerade in der Corona-Krise unübersehbar. Die Wiedergänger der Nazis in den Parlamenten und auf der Straße kämpfen um die Rettung der Heimat - vor der Maskenpflicht und der angeblichen Verschwörung gegen die Heimat, hinter der, irgendwelche Echsenmenschen oder kinderblutsaufende Superreiche stehen sollen, oder - die deutsche Seele braucht es einfach noch - die Juden. Dieser, auch in der sogenannten gesellschaftlichen Mitte virulente Hass, der sich als Heimatliebe ausgibt, ist gefährlich - das zeigt der Blick auf das Gewaltregime der Nationalsozialisten. Die Stadterhebungsfeier von Dachau im August 1934 führt Göttler als Illustration der "Pervertierung des Heimatbegriffs" an. Zehn Tage lang feierte der Marktflecken an der Amper, während im wenige Kilometer entfernten Konzentrationslager seit einem Jahr Menschen gefoltert und getötet wurden. Heimat war immer auch ein Instrument zur Ausgrenzung anderer - die Nazis sprachen nur Menschen das Heimatrecht zu, die ihnen als rassische Volksgenossen galten. Aber hier und heute? Das Thema Heimat und Gewalt könne man nicht so leicht in die Ecke historisch-unverbindlicher Betrachtung abstellen. "Es ist unübersehbar, dass vor allem rechtspopulistische Parteien und Gruppierungen einen Heimatbegriff verwenden, der ausschließend und menschenverachtend daherkommt."

Aus diesem Grund wollen konservative Parteien, aber auch Grüne und Linke den Heimatbegriff - ein zentrales Motiv rechter Diskurse - nicht den Rechten überlassen. Ob das sinnvoll ist oder gelingen kann, sei zunächst dahingestellt. In dieser Debatte verdient das Buch "Heimat und Gewalt, zwei Aufsätze zur Heimatpflege in Oberbayern" jedenfalls breite Beachtung. Der nur knapp einhundert Seiten zählende Band ist von einiger Sprengkraft. Das liegt an der Unerschrockenheit der Autoren, neben Norbert Göttler das Autorenpaar Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen, die Perspektiven aus Psychotherapie und Pädagogik auf das Thema beigesteuert haben, kluge und sensible Aufsätze, die Ursachen und Folgen einer blinden Beziehung zur Heimat analysieren.

Die oberbayerische Geschichte ist reich an Beispielen archaistischer Formen der Ausgrenzung und Gewalt. Die Darstellung der alten Welt als heimatlich und heimelig blendet das häufig aus. Die sechs Fallstudien behandeln etwa das Haberfeldtreiben, einen sogenannten Brauch, der ein Mittel zur gewaltsamen Ausgrenzung war und später der gleichgeschalteten deutschen Volkskunde im Nationalsozialismus als gesunder Ausdruck völkisch-germanischen Sittlichkeitsempfindens galt. Göttler betrachtet auch die antiliberalen, antidemokratischen und antisemitischen Artikel des Heimatdichters Ludwig Thoma im Miesbacher Anzeiger, der in seinen Memoiren schrieb: "Am schönsten war es doch in Dachau." Den Satz haben bis vor ein paar Jahren konservative und besonders heimatverbundene Kommunalpolitiker im Landkreis gerne zitiert. Die dritte Fallstudie beschäftigt sich mit der "Alltäglichen Gewalt in der altbayerischen Gesellschaft", Gewalt von Autoritäten wie Lehrer oder Pfarrer, sexualisierte Gewalt, Vergewaltigungen - "die Ideologie der Nationalsozialisten begann nicht erst 1933. Vielmehr hat die Erziehung schon Generationen lang zuvor versagt, nämlich die Erziehung zur Humanität und zum kritischen Denken", zitiert Göttler Altbundeskanzler Helmut Schmidt, Jahrgang 1918. Auch der Antisemitismus: In Oberbayern waren die Judasfeuer oder Jaudusfeuer seit mindestens dem 19. Jahrhundert ein fester Bestandteil des Brauchtums in vielen katholischen Gemeinden am Vorabend des Ostersonntags. Auf einem Holzstoß wurde eine mannsgroße Puppe - den biblischen Judas darstellend - verbrannt. Göttler schreibt: "Einer Studie der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern, auch eigenen Beobachtungen zufolge, nimmt der Brauch des Judasfeuers in den letzten Jahren wieder zu." Die weiteren Fallstudien handeln von Ausgrenzung und Bedrohung von Künstlern, Literaten, überhaupt Andersdenkender sowie der Lynchjustiz im Zusammenhang mit der Münchner Räterepublik - der Autor nimmt den Leser auf viele Schrecken bergende Nachtfahrten durch die angeblich so schöne Heimat mit. Die "gute, alte Zeit" war so gut gar nicht - auf jeden Fall nicht für Minderheiten wie Juden oder vermeintlich Fremde; auch nicht für Frauen und Kinder in der dörflichen Gemeinschaft.

Das Janusgesicht des Konstrukts Heimat: Sie kann Gefühle der Vertrautheit und Geborgenheit und Lebensfreude geben, aber sie "birgt auch die Gefahr von Ausgrenzung und Stigmatisierung, die schneller als erwartet in physische und psychische Gewalt umschlagen kann", vor allem dann, möchte man hinzufügen, wenn die Heimat zum politischen Programm und ein "Wir" in scharfem Gegensatz zu den "anderen" konstruiert wird. In ganz Europa wird im wieder aufsteigenden Nationalismus dieses "Wir" sichtbar, das die Mitgliedschaft nach der Abstammung bestimmt. "Heimat allein ist noch kein Wert an sich, es kommt darauf an, welche Botschaft mit diesem Wort verbunden ist."

Für People of Colour etwa ist die Botschaft unmissverständlich: Sie gehören nicht dazu. Die Autorin Sharon Dodua Otoos erzählt in "Eure Heimat ist unser Albtraum" vom Alltagsrassismus der deutschen Gesellschaft, dass ein weißes Mädchen mit einem Radiergummi vor dem Gesicht ihres Sohnes Tyrell herumfuchtelte. Ein weißer Mitschüler sagte: "Sie versucht, deine Hautfarbe zu entfernen. Schwarze Haut kommt vom Teufel." Jürgen und Ingeborg Müller-Hohagen wissen aus jahrelanger Berufserfahrung, welche Folgen Ausgrenzung, Diskriminierung oder sexuelle Gewalt auf Kinder haben: "Die innere Heimat kann gestört oder sogar zerstört werden."

Die Naziverbrechen prägen bis in die Gegenwart hinein die nachfolgenden Generationen der Täter - die der NS-Opfer sowieso. Dazu die Publizistin Alexandra Senfft, Enkelin eines hochrangigen Nazis: "Die Nazis waren nicht nur die Prominenten, es waren keine Monster oder Irre, sondern ganz gewöhnliche Menschen. Es waren unsere Verwandten." Die Aufsätze warnen davor, sich von dieser Tatsache abzuwenden und sich für "unbetroffen" zu halten. Gerade die Verweigerung der Auseinandersetzung, lässt die Vergangenheit nicht vergehen - wie der erstarkende Antisemitismus deutlich macht. Jürgen und Ingeborg Müller-Hohagen wollen ein Bewusstsein für ein "neues Beheimaten" fördern - darin sehen sie einen Weg hinaus aus der unheimlichen Heimat.

"Heimat und Gewalt. Zwei Aufsätze zur Heimatpflege in Oberbayern". Norbert Göttler (HG.) Bezirk Oberbayern.

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SZ vom 25.03.2021
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