Dachau:Gefangen in der virtuellen Welt

Die Dachauer Drogenberatungsstelle kümmert sich auch um Menschen, die süchtig nach dem Internet sind

Von Angelika Aichner, Dachau

Wer an die Tür von Renato Calmanti klopft, hat ein Problem. Der Psychologe kümmert sich um drogenabhängige und spielsüchtige Menschen. Mittlerweile auch um jene, die internetabhängig sind - deutschlandweit sind das, so heißt es im diesjährigen Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung - 560 000 Menschen. Die Zahl bezieht sich allerdings auf das Jahr 2013; inzwischen dürfte sie deutlich höher liegen.

An Renato Calmanti von der Dachauer Drogenberatungsstelle wandten sich in diesem Jahr "weniger als zehn Leute", aber das heiße nicht, dass es nicht mehr Betroffene gebe, sagt er. Diejenigen, die sich bislang bei ihm meldeten, seien nicht bloß internetabhängig gewesen, sondern hätten obendrein an weiteren psychischen Erkrankungen gelitten, etwa an einer Depression. "Unklar ist, ob eine Person depressiv ist, weil sie internetabhängig ist, oder ob sie internetabhängig ist, weil sie depressiv ist", sagt Calmanti. Unklar ist das deshalb, weil es bisher sehr wenige wissenschaftlich gesicherte Daten zur Krankheit gibt. Fest steht, dass es ein schmaler Grat ist vom exzessiven Internetkonsum zum zwanghaften Verhalten. Gerade weil es heutzutage als normal gilt, über Amazon einzukaufen, auf Facebook Freunde zu finden und in "World of Warcraft" gegeneinander zu kämpfen. "Problematisch wird es dann, wenn die virtuelle Welt wichtiger wird als die reale", sagt Calmanti. Wenn man in der Schule deswegen hinterherhinke, seine Arbeit vernachlässige; wenn sich die sozialen Kontakte weitestgehend auf die virtuelle Welt beschränken, bis man irgendwann den Bezug zur Realität verliert.

So war es bei einem jungen Mann, der sich vor wenigen Monaten an die Beratungsstelle wandte. Er war süchtig nach pornografischem Material; er gab mehrere Tausend Euro dafür aus, um sich etwa Webcams zu besorgen, mit denen er an obszönen Chats teilnehmen konnte. Außerhalb dieser unwirklichen Welt habe er keine weitreichenden sexuellen Kontakte gehabt und sei nach und nach vereinsamt, so Calmanti. Schließlich musste er sich stationär behandeln lassen.

"Die Krankheit ambulant zu behandeln, ist schwierig", sagt Kerstin Hoogmoed, die ebenfalls in der Beratungsstelle arbeitet. Weil internetfähige Geräte omnipräsent sind. Das macht es auch so schwierig, von der Sucht loszukommen. "Es ist unmöglich, eine vollkommene Abstinenz herzustellen", sagt sie. Man müsse eine kontrollierte Abstinenz anstreben. "Das ist so, als würde ein Alkoholiker kontrolliert trinken oder ein Heroinabhängiger kontrolliert spritzen", sagt Calmanti. Deswegen sei Prävention unumgänglich. Jährlich veranstaltet die Drogenberatungsstelle in Schulen den Aktionstag "Game over" zur Prävention von Glücksspiel, Spiel- und Mediensucht. In diesem Jahr habe ihm dabei ein zwölf Jahre alter Junge demonstriert, wie schnell er zu pornografischem Material auf YouPorn gelangen könne. Da blinke einfach ein Warnhinweis auf, dass man die Seite erst besuchen dürfe, wenn man volljährig sei. Bestätigt man die eigene Volljährigkeit durch den entsprechenden Button, gelangt man prompt auf die Seite.

Erschreckend ist aber auch, wie wenig die Eltern über die digitalen Medien wissen. "Nicht nur das", so Calmanti, "viele interessieren sich einfach nicht dafür, wie ihre Kinder das Internet nutzen." Das kann fatale Folgen haben. Deswegen müsse sich sein bald 16 Jahre alter Sohn an strikte Regeln halten: "Er hat ein Smartphone mit einer Prepaidkarte und darf nur bei uns zu Hause ins drahtlose Internet. Pornografische Seiten sind gesperrt. Außerdem kontrolliere ich regelmäßig, welche Inhalte er auf seinem Telefon hat." Er mache das nicht, um seinen Sohn zu ärgern, betont Calmanti. Er will ihn nur beschützen, weil er weiß, was passiert, wenn man im Netz gefangen ist.

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