Seit 1985 findet im Rahmen der Veranstaltungen zur Befreiung des Konzentrationslagers Dachau auch eine Gedenkstunde am Schießplatz Hebertshausen statt. Dort hat die SS nach dem Überfall auf die UdSSR 1941 und 1942 mehr als 4000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet. Darauf weist Ernst Grube, Zeitzeuge und Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, gleich zu Beginn seiner Rede hin. Da wird sein Vortrag durch den heftigen Wind, der auf das Mikrofon bläst, massiv gestört. Zum Glück kommt Kathie Swinson, Tochter des US-Befreiers William Palethorpe, zu Hilfe und hält mit ihrem Schirm die Böen ab, so dass danach alle Reden einwandfrei zu hören sind.
Neben dem 92 Jahre alten Holocaust-Überlebenden Grube sprechen am Samstagnachmittag die französische Freiwillige der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) an der Versöhnungskirche, Marine, deren Nachname auf ihren Wunsch nicht genannt werden soll, und Franziska Sessler, die Urenkelin von Lina und Alfred Haag. Sie ist auch Präsidiumsmitglied der Lagergemeinschaft. Musikalisch umrahmt wird das Gedenken vom Trompeter Steffen Sedlak mit dem „Dachau-Lied“ und den „Moorsoldaten“.
3,3 von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen wurden ermordet
Grube erinnert nicht nur an die Untaten am Schießplatz Hebertshausen, sondern auch daran, welch furchtbare Verbrechen Wehrmacht und SS im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion begangen haben: Von etwa 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen habe man mehr als 3,3 Millionen ermordet, verhungern oder erfrieren lassen. Rund 40 Prozent aller Shoa-Opfer hätten in sowjetischen Gebieten gelebt und „wurden oft schon vor der Errichtung von Vernichtungsstätten - wie Auschwitz – in Massenerschießungen ermordet. Auch das 900-tägige Aushungern von Leningrad mit über 1,2 Millionen Toten war ein von der Wehrmachtsführung kalkuliertes Menschheitsverbrechen“, erläutert der Münchner Ehrenbürger. Lange habe es gedauert, bis der Eroberungskrieg mit 27 Millionen sowjetischen Toten in der Bundesrepublik Deutschland in seiner mörderischen Dimension nicht mehr verleugnet oder verzerrt worden sei, betont Grube.
„Aktuell wird die ohnehin schwache Erinnerung und das Gedenken überlagert vom brutalen Krieg Russlands gegen die Ukraine“, sagt Grube und bekräftigt die Erklärung der Lagergemeinschaft, in welcher der russische Angriffskrieg verurteilt wird. In der aber auch geäußert wird, „dass jeder politische Konflikt am Verhandlungstisch gelöst werden kann, wenn beide Seiten Vernunft und Menschlichkeit an den Tag legen“. Grube beklagt zudem, dass „in unserem Land Bedrohungsszenarien geschürt werden“ und das Grundgesetz geändert worden sei, „um einen Hochrüstungskurs durchzusetzen“.
Ebenso scharfe Kritik wie an der in seinen Augen vorangetriebenen Militarisierung übt er daran, dass die menschenfeindlichen Positionen der AfD zur Abschaffung des Asylrechts und der Aushebelung der Genfer Flüchtlingskonvention inzwischen von vielen Parteien als Lösung für Krisen schrittweise umgesetzt würden. Zusammenfassend sieht Ernst Grube „Deutschlands besondere Verantwortung aus seiner Geschichte mit zwei begonnen Weltkriegen und dem Holocaust“ nicht in der Herstellung von Kriegstüchtigkeit, sondern darin Frieden zu stiften und „für ein Verbot der AfD zu sorgen“.




„Die Erinnerung ist unser Schutz gegen die Wiederholung der Schrecken der Vergangenheit“, erklärt die junge Französin Marine. Denn die Geschichte zeige, dass Autoritarismus und Populismus im Zweiten Weltkrieg Unterdrückung und Verfolgung ermöglicht hätten. Für sie folgt daraus, dass Hass zu einer zerstörerischen Kraft werde, wenn er sich ungehindert verbreiten könne. Deshalb hält sie es für wichtig, verstehen zu lernen, wie man das verhindern kann – auch in der Gegenwart, wie in ihrem Heimatland Frankreich, wo trotz pädagogischer Bemühungen fremdenfeindliche Ideologien und Antisemitismus fortbestehen.
„Dazu müssen wir anerkennen, dass die heutige Welt globalisiert und vernetzt ist. Sie unterscheidet sich deutlich von der Welt vor über 80 Jahren“, sagt sie und folgert dennoch: „Doch die Formen des Hasses bleiben zerstörerisch – auch wenn sie sich verändern.“ Jeden Tag seien wir in den sozialen Medien heutzutage „einer Flut von provokanten und unangemessenen Meinungen ausgesetzt“, die zur Spaltung der Gesellschaft führen. Als ein gutes Mittel, dem entgegenzuwirken, nennt sie Besuche von Gedenkstätten, die zu einem Ort des Austauschs werden können, wo die Besucher lernen, dass es jedem möglich ist, zur Gestaltung einer gerechteren Gesellschaft beizutragen durch Wachsamkeit, Urteilsvermögen, Handeln und Wohlwollen: „Zur Würdigung unserer Vorfahren, unserer Zeitgenossen und unserer Nachfahren.“
Die Urgroßeltern überleben und setzen sich für Erinnerungsarbeit ein
So manchem Zuhörer mag es eiskalt den Rücken heruntergelaufen sein, als Franzi Sessler detailliert beschreibt, wie die SS-Männer an diesem Platz die Kriegsgefangenen durch Kopfschüsse töteten, die eher Enthauptungen glichen. „Wir stehen heute auf dem Boden der Schandtaten. An einem Ort, der uns zur Erinnerung geblieben ist. Wir alle stehen hier, weil uns die Verantwortung unserer Aufgabe bewusst ist: Wie können wir eine Wiederholung der Geschichte im Kleinen wie im Großen verhindern?“, so ihre sich daraus ergebende Frage. Sie als Urenkelin von Alfred und Lina Haag fühlt diese Verpflichtung: Der Uropa war Kommunist und einer der ersten Häftlinge im KZ Dachau, die ebenfalls politisch aktive Uroma wurde mehrmals verhaftet, verurteilt und gefoltert. Beide Urgroßeltern überlebten und setzten sich für die Erinnerungsarbeit ein. Alfred Haag etwa kämpfte unermüdlich für die Errichtung der KZ-Gedenkstätte Dachau, war Vorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und Mitglied im Internationalen Dachau-Komitee.
Die kleine Franzi hörte als Kind oft von einem Buch, das sie aber nicht zu lesen bekam, weil man ihr sagte, sie sei zu jung. „Ich war neun Jahre alt, als ich es mir heimlich nahm. Unter der Bettdecke, mit einer Taschenlampe, begann ich zu lesen. Heute weiß ich: Dieser Moment hat mein Leben verändert.“ Es war das Buch „Eine Handvoll Staub“, in dem Lina Haag 1947 „elf Jahre Leid und Widerstand beschreibt“. Die Uroma habe ihr bis zu ihrem Tod 2012 mit 105 Jahren alles berichtet, was sie wissen wollte, erzählt Franzi Sessler. Als sie starb, habe sie Franzi und deren Mutter einen Zettel hinterlassen: „Jetzt ist es Eure Aufgabe, die Geschichte weiterzuerzählen – damit niemand vergisst, wozu der Mensch fähig sein kann.“ Diese Geschichte sei jetzt ihre Geschichte, aber auch „unsere gemeinsame Geschichte. Eine Geschichte von Zivilcourage, Widerstand – von Menschlichkeit inmitten der Unmenschlichkeit“. Und jetzt sei jede und jeder Einzelne gefragt: „In Schulen, in Familien, in Diskussionen, auf Demos, in sozialen Medien, in der Politik, im Alltag. Dort, wo sich der Hass einschleicht. Wo Antisemitismus, Rassismus und Menschenverachtung wieder Worte finden. Wo sie Blicke finden. Zustimmung. Schweigen.“