Süddeutsche Zeitung

KZ-Gedenkstätte Dachau:Aufbruch ohne Ende

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Im Jahr 1980 erkämpfen Sinti und Roma durch einen Hungerstreik in der Versöhnungskirche in Dachau ihre späte Anerkennung als NS-Opfer - doch die deutsche Mehrheitsgesellschaft diskriminiert sie bis heute und grenzt sie aus.

Von Anna-Elisa Jakob, Dachau

Da hängen sie an den Wänden der Versöhnungskirche, die schwarz-weiß Fotografien der dramatischen Szenen von damals. An jenen betongrauen Wänden, zwischen denen am 4. April 1980 zwölf Sinti, darunter drei KZ-Überlebende, in einen Hungerstreik traten, der weltweites Aufsehen erregte. Dokumente der Geburtsstunde eines Aufbruchs - in Dachau, der Stadt, die sich ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit nicht stellen wollte. Die Aktivisten der 1975 gegründeten Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma beendeten ihren Hungerstreik erst, als Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel auf das Gelände der KZ-Gedenkstätte kam.

Nach den Gesprächen mit den Aktivisten bezeichnete der SPD-Politiker die Protestaktion als einen "ganz wichtigen Anstoß" zum Abbau von Vorurteilen. Einer unter seinen Gesprächspartnern, ein junger Mann, beeindruckte Vogel besonders: der 34-jährige Romani Rose, der zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma gewählt wurde. 1982 erkannte Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) den NS-Völkermord an Sinti und Roma erstmals öffentlich an, was ihnen in der nach wie vor antiziganistischen Stimmung in der Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang verwehrt worden war.

Seitdem sind 40 Jahre vergangen. Deshalb nun die Ausstellung in der evangelischen Versöhnungskirche mit vielen Schwarz-Weiß-Fotos der damaligen Demonstration. An diesem Montagabend eröffnet sie mit einem Podiumsgespräch, bei dem Geschichte und aktuelle Situation der deutschen Sinti und Roma diskutiert wird. Dabei erzählen auch Menschen wie Uta Horstmann, die damals an dem Hungerstreik teilgenommen hatte. Als Sozialarbeiterin in München hatte sie sich bereits mit der Geschichte der Sinti und Roma beschäftigt, doch die sieben Tage des Hungerstreiks sollten ihre Arbeit stark prägen, politisch wie persönlich.

Einer der Streikenden war Jakob Bamberger, ein ehemaliger Dachauer Häftling. Nachts, wenn es dunkel und die Versöhnungskirche geschlossen war, ging Uta Horstmann mit ihm entlang der alten Lagerstraße auf dem Gedenkstättengelände spazieren. Er war für diese sieben Tage an den Ort zurückgekehrt, an dem er so viel Leid erfahren hatte. "Es war eines der einschneidendsten Erlebnisse meiner beruflichen Laufbahn", sagt Uta Horstmann. Mehr als eine halbe Million Sinti und Roma hatten die Nazis ermordet - und nach Kriegsende stützten sich unter anderem bayerische Behörden auf die rassistischen Akten des Reichssicherheitshauptamtes und des Rassenhygieneamtes der Nazis.

Ein Skandal, der niemand interessierte. So diffamierten "Zigeunerspezialisten" im bayerischen Landeskriminalamt die überlebenden Opfer der Verfolgung als "weitgehend kriminell und asozial". Der damalige bayerische Innenminister Gerold Tandler (CSU) deckte das politisch. Den Dachauer Streik sehen viele heute als den größten Wendepunkt in der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma an.

Doch was ist daraus geworden? Einer, der das wissen muss, ist Oswald Marschall. Er ist Referatsleiter des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, selbst Sinti. Am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im Januar hätte er eigentlich, wie die Jahre zuvor, in Berlin eine Rede über den Völkermord an Sinti und Roma vor einer Riege an Politikern halten sollen. Doch er hatte bereits die Einladung des Projektes "Nie wieder!" und der Versöhnungskirche nach München angenommen. Und so sprach Marschall vor einem kleinen Publikum im Münchner Glockenbachviertel. In seiner Rede benannte er nicht nur genau die grausamen Taten der Deutschen an Sinti und Roma, er sagte auch: "Das Völkermordverbrechen, das sich vor den Augen aller vollzog, fand nach 1945 beinahe lückenlos seine Fortsetzung." Die Ausgrenzung sei weitergegangen, ehemalige Täter agierten in Politik, Wirtschaft, Polizei. Und während Täter für ihre Arbeit in der NS-Zeit sogar Rente erhielten, kämpfen viele Opfer heute noch um ihre Anerkennung. "Die deutschen Behörden vertraten weiter die NS-Rassenideologie."

Die 1936 unter Robert Ritter gegründete "Rassehygienische und Bevölkerungsbiologische Forschungsstelle" erfasste Juden sowie Sinti und Roma, um ihre angeblich genetischen Eigenschaften "wissenschaftlich" zu untersuchen. All das hielten die "Rasseforscher" in Akten fest, die dem NS-Regime als Grundlage dafür diente, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Sinti und Roma aus ihren Häusern zu verschleppen, in Ghettos und Konzentrationslager zu deportieren und zu ermorden oder ihnen Zwangsarbeit aufzuerlegen. Diese NS-Akten wurden später auch Anlass des Hungerstreiks in der Versöhnungskirche. Sowohl das Landes- als auch das Bundeskriminalamt verwehrten sich der Herausgabe der schätzungsweise 24 000 Akten, dabei hieß es, diese Zeugnisse rassischer Verfolgung der Sinti und Roma gebe es nicht mehr. Gleichzeitig lehnten die Behörden Wiedergutmachungszahlungen jedoch ab - aufgrund der Einstufung als Sinti und Roma auf Grundlage dieser Akten.

Zehn Jahre nach Kriegsende hieß es in einem Urteil des Bundesgerichtshofs noch immer, dass "trotz des Hervortretens rassenideologischer Gesichtspunkte, nicht die Rasse als solche der Grund für die darin getroffenen Anordnungen bildet". Vielmehr, so das Urteil von 1956, seien es die "bereits erwähnten asozialen Eigenschaften der Zigeuner, die auch schon früher Anlass gegeben hatten, die Angehörigen dieses Volkes besonderer Beschränkungen zu unterwerfen". Im Klartext: Die Richter der demokratischen Bundesrepublik machten Sinti und Roma selbst dafür verantwortlich, dass man sie ausgegrenzt, ihnen Hab und Gut genommen, sie aus rassischen Gründen verfolgt und in Massen ermordet hatte.

Nach 45 Jahren hat die Bürgerrechtsbewegung viel erreicht, staatliche Reaktionen folgten dabei meist erst nach großen Protesten. Beispielsweise 1983, als rund 250 Menschen auf die Straßen gingen, um gegen das Kürzel "ZN" für "Zigeunername" in Polizeiakten zu demonstrieren. Geändert wurde dies, doch die Sondererfassung von Sinti und Roma lief unter einem anderen Kürzel weiter: "HWAO" für "Häufig wechselnder Aufenthaltsort". Auch heute werden dem Zentralrat immer wieder derartige Vorfälle bekannt.

"Wir sind in diesem Land geblieben, wie kann man das eigentlich?" Das fragt sich Marschall immer wieder. Nach dem Völkermord kehrten die meisten Sinti-Familien nach Deutschland zurück. Er selbst sei Patriot, so Marschall, in jungen Jahren boxte er für die Deutsche Nationalmannschaft, war Fahnenträger für sein Heimatland. "Trotzdem muss ich heute noch hier sitzen", sagt er an dem Abend in München. Und dabei vor wachsendem Antiziganismus warnen. Stigmatisierung gehört zum Alltag der Sinti und Roma. Laut Umfragen denkt fast die Hälfte der Deutschen, dass sie zur Kriminalität neigen, ein Viertel will sie nicht ihn ihrer Nachbarschaft.

Die NS-Rasseakten gelten übrigens bis heute als verschwunden. Diskriminierung und Ausgrenzung der Sinti und Roma aber halten an - und der Bundestag schweigt.

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SZ vom 02.03.2020
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