Dachau:Gedenken im Schatten des Krieges

Dachau: Das Fahnenmeer zum 77. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau zeigt, aus wie vielen Nationen die Gefangenen kamen.

Das Fahnenmeer zum 77. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau zeigt, aus wie vielen Nationen die Gefangenen kamen.

(Foto: Toni Heigl)

Nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause wird der 77. Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau wieder in Präsenz begangen. Fast alle Redner nehmen Bezug auf den Ukraine-Krieg. Der Schoah-Überlebende Boris Zabarko ist aus Kiew geflohen und hält eine bewegende Rede.

Von Helmut Zeller, Dachau

Dann, endlich, kommt Borys Zabarko. Er spricht als Letzter auf dem ehemaligen Appellplatz des Konzentrationslagers Dachau. Auf seine Rede warten viele der ungefähr 250 Besucher, denn der Schoah-Überlebende kommt aus der Ukraine. Vor drei Wochen ist der 86-Jährige mit seiner Enkelin Ilona, 17, aus Kiew geflohen, infizierte sich in den überfüllten Zügen mit Corona und jetzt, kaum genesen, schreitet Zabarko aufrecht zur Rednertribüne, greift sich von einer Schülerin die blaugelbe ukrainische Nationalfahne und lehnt sie ans Rednerpult. Schüler und Schülerinnen tragen an diesem Sonntag die Fahnen der 40 Länder, aus denen mehr als 200 000 Menschen nach Dachau und in seine Außenlager verschleppt worden sind. Mindestens 41 500 haben nicht überlebt. Nur die Fahnen Russlands und der Republik Belarus fehlen, die Diplomaten und Konsuln beider Länder sind ausgeladen worden. Putins Krieg gegen die Ukraine überschattet die Gedenkfeiern zum 77. Jahrestag der Befreiung des KZ am 29. April 1945. Zabarko sagt: "Ich stehe hier als Vertreter von Juden. 1,5 Millionen Juden sind dem Nationalsozialismus in der Ukraine zum Opfer gefallen. Ich komme aus Kiew, der Stadt, in der in nur zwei Tagen 33 770 Jüdinnen und Juden bei dem Massaker in Babi Jar erschossen wurden. Wir Überlebende hätten nie gedacht, dass mitten in Europa wieder Krieg sein wird."

Dachau: Bei den Feierlichkeiten werden zahlreiche Blumenkränze niedergelegt.

Bei den Feierlichkeiten werden zahlreiche Blumenkränze niedergelegt.

(Foto: Toni Heigl)
Dachau: Der Zeitzeuge Borys Zabarko ist in diesem Jahr ein gefragter Gesprächspartner. Er ist aus der Ukraine.

Der Zeitzeuge Borys Zabarko ist in diesem Jahr ein gefragter Gesprächspartner. Er ist aus der Ukraine.

(Foto: Toni Heigl)

Gerade eben hat General Jean-Michel Thomas, Präsident des Comité International de Dachau (CID), gesagt, dass dieser Ort des Gedenkens kein Podium für politische Stellungnahmen sei. Aber es sei auch unmöglich, die Empörung nicht zum Ausdruck zu bringen. Das Narrativ von der "Entnazifizierung der Ukraine", mit dem der Kreml den Krieg begründe, "ist eine unzulässige Verfälschung der Geschichte, eine Beleidigung aller Opfer der Konzentrationslager". Vizelandtagspräsident Karl Freller (CSU), Direktor der bayerischen Gedenkstättenstiftung, sagt: "Wie schizophren es ist, dass die Rote Armee viele KZ befreit hat und jetzt ihre Nachfolgearmee Raketen auf KZ-Überlebende in der Ukraine abfeuert." Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) leitet aus dem Appell der Buchenwald-Häftlinge "Nie wieder!" die Forderung ab: "Stoppt diesen Krieg." Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann weist darauf hin, dass autoritärer Nationalismus wieder zu einem Angriffskrieg mit Verbrechen an der Zivilbevölkerung geführt habe, was den Lehren aus der gewalttätigen Geschichte des 20. Jahrhunderts völlig widerspreche.

"Das ist eine absolute Tragödie"

"Das ist eine absolute Tragödie. Die Nachfahren derjenigen, die uns befreiten, schießen nun auf uns." Boris Zabarko ist in diesen Wochen ein begehrter Mann, deutsche Zeitungen und ausländische wie die New York Times berichten über ihn. Als er vor ungefähr 15 Jahren Dachau besuchte, fand er kaum Beachtung. Viel lieber wäre er jetzt zuhause in Kiew. "Ich wollte nicht weg, aber dann hat meine Tochter mich überredet, meine Enkelin Ilona, die wegen dem Raketenbeschuss an Albträumen litt, rauszubringen." Dann ging alles so schnell. Eine halbe Stunde Zeit hatte er nur, um zu packen, das Allernotwendigste - das Manuskript seines letzten Buches blieb in der Wohnung zurück. "Ich schreibe über die letzte Generation der Überlebenden", sagt er. Zabarko ist der Historiker der Schoah in der Ukraine. 2019 ist sein Standardwerk "Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse von Überlebenden" auf Deutsch erschienen.

Jetzt ist der Präsident der Allukrainischen Assoziation der Jüdischen KZ- und Ghettoüberlebenden in Stuttgart untergekommen und organisiert Hilfstransporte für die Überlebenden in der Ukraine. In seinem Land leben der letzten Zählung von 2001 zufolge noch etwa 103 000 Juden. Aber so genau weiß das niemand, weil viele sich, wie Zabarko sagt, nicht als Juden zu erkennen gäben, viele auch inzwischen ausgewandert sind. Auf der Flucht, in den überfüllten Zügen, erzählt er, bekam er keinen Sitzplatz, er stand an ein Fenster im Gang; weil er so hochgewachsen ist, überragte er alle anderen. "Da dachte ich an die Deportationszüge mit Juden. Wie es für diese Menschen war, in überfüllten Viehwaggons ohne Luft und Wasser. Damals gingen die Menschen vom normalen Leben in den Tod. Wir gehen vom Tod in das normale Leben." Zabarko überlebte als Fünfjähriger das Ghetto in Scharharod. Sein Vater fiel als Rotarmist an der Front, wo genau, weiß er nicht, sein Onkel befreite mit seiner Einheit Budapest und verbrannte in den letzten Kriegstagen in seinem zerschossenen Panzer. Über die Vergangenheit kann Zabarko nicht aufhören zu erzählen. Die Zeit drängt, aber er hat noch viel zu sagen, deshalb lässt er das Mittagessen ausfallen. Ein Butterbrot tut es auch.

Erschütternde Unkenntnis der Geschichte

Am Sonntag spricht Zabarko auch über den Antisemitismus in Europa und über den palästinensischen Terror gegen Israel. Er warnt. Das tun auch die anderen Überlebenden, die von Gedenkstättenleiterin Hammermann vor allen Gästen aus der Politik begrüßt werden. Ihre herzliche Begrüßung bringt für einen Augenblick Wärme in den kalten Tag, an dem auf das Zeltdach am ehemaligen Appellplatz der Regen prasselt. Jean Lafaurie, der in der Résistance kämpfte, im Juni 1944 nach Allach deportiert wurde. Mario Candotto, der am 24. März 1944, er war gerade 18 Jahre alt geworden, zu Zwangsarbeit für die Firma BMW verschleppt wurde und Erich Finsches, der Wiener Jude, dessen Eltern in der Schoah ermordet wurden und der das Außenlager Kaufering überlebte. Hammermann erinnert an die Erniedrigung und die Gewalt, unter denen sie und Tausende andere in Dachau gelitten haben. Lafaurie warnt, dass die Stimme des Rassismus, Antisemitismus und Hasses heute schon die Stimme der Überlebenden übertöne. "Die Unkenntnis unserer Geschichte erschüttert uns, noch mehr die Versuche, die Geschichte umzuschreiben." CID-Vizepräsident Abba Naor spricht vor dem ehemaligen Krematorium über seine Mutter und seinen fünfjährigen Bruder, die vom KZ Stutthof in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt wurden. "Jeden Tag denke ich an meine Mutter, noch heute mit 94 frage ich sie bei jeder wichtigen Entscheidung um Rat." Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) sagt: Man müsse sich berühren lassen und Haltung entwickeln und gegen gegen alle antisemitische Worte und Taten entschieden vorgehen - in der Politik wie im Alltag.

Der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden hatte in diesem Jahr wegen der Pandemie nur ein stilles Gedenken am Jüdischen Mahnmal in der KZ-Gedenkstätte angekündigt. Aber Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, ist gekommen. Nach dem Kaddisch wird sie danach gefragt, dass doch nur wenige Besucher nach zwei Jahren Pause in der Pandemie gekommen seien. Sie meint, ob nun 20, 50 oder 100 und mehr Besucher, wichtig sei das Gedenken. Die israelische Generalkonsulin Carmela Schamir geht währenddessen alleine in das dunkle Mahnmal-Gebäude. Sie dreht sich langsam im Kreis, schaut auf die Wände und tritt wieder ans Tageslicht.

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SZ PlusBefreiung des KZ Dachau vor 77 Jahren
:"Wenn man einmal so nah am Tod war, dann liebt man das Leben"

1945 trieb die SS mehr als 10 000 KZ-Häftlinge von Dachau aus durch das Würmtal Richtung Süden. 77 Jahre später kommen drei Überlebende des Todesmarschs zur Gedenkveranstaltung nach Dachau.

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