Süddeutsche Zeitung

Aktion Sühnezeichen:Der lange Weg zum Gedenken

Lesezeit: 3 min

Angelika Berghofer und Günther Wahrheit gehörten vor 50 Jahren zu den ersten Freiwilligen, die mit der Initiative nach Dachau kamen. Ihre Eltern waren gegen den Einsatz. Heute zieht die Organisation Jugendliche aus aller Welt an.

Von Anna-Sophia Lang, Dachau

Als Angelika Berghofer vor wenigen Tagen aus der S-Bahn am Dachauer Bahnhof stieg, erlebte sie eine Überraschung. Eine, die sie sehr glücklich machte. Bereits nach wenigen Schritten stieß sie auf Schilder, die den Weg zur KZ-Gedenkstätte und Richtung Jugendgästehaus weisen. Als Berghofer das erste Mal nach Dachau kam, gab es das Jugendgästehaus noch gar nicht. Es war im Herbst des Jahres 1965, und obwohl im Mai die KZ-Gedenkstätte eröffnet worden war, befand sich die Stadt erst in den Anfängen ihrer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Berghofer kam mit 14 anderen Jugendlichen nach Dachau, um sich im Freiwilligendienst am Bau der evangelischen Versöhnungskirche zu beteiligen. Die Organisation, mit der die Jugendlichen kamen, war erst wenige Jahre alt: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF).

Genau 50 Jahre später sitzt Berghofer in der Kirche, die sie als junge Frau langsam in die Höhe wachsen sah. Neben ihr hat Günther Wahrheit Platz genommen, auch er gehörte zur Gruppe der ersten 15 Freiwilligen von 1965. Die beiden sind extra nach Dachau gereist, um 50 Jahre Freiwilligendienst an der Gedenkstätte zu feiern. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste wurde 1958 auf der Synode der evangelischen Kirche in Deutschland gegründet. Im Mittelpunkt des Gründungsaufrufes stand der Wille, nationalsozialistische Verbrechen anzuerkennen und sich für die Versöhnung mit ihren Opfern zu engagieren. Seitdem ist die Organisation beständig gewachsen und ist internationaler geworden. Zu Zeiten Berghofers und Wahrheits wurde der Begriff Sühnezeichen noch wörtlich genommen: Meist halfen die Freiwilligen beim Bau von Gedenkstätten und schufen so greifbare Zeugnisse des Strebens nach Wiedergutmachung. Heute arbeiten die Freiwilligen in der Erinnerungsarbeit und unterstützen Überlebende der Schoah oder engagieren sich in sozialen Einrichtungen für Behinderte und Senioren.

180 Freiwillige aus Deutschland in zwölf Ländern

Aus greifbarer Arbeit am Bau ist soziale Arbeit mit Gesprächen und Begegnungen geworden. "Das Spektrum ist breit gefächert", sagt Sebastian Weber, der als Vertreter von ASF zur Jubiläumsfeier nach Dachau gekommen ist. Die Organisation entsendet jährlich rund 180 Freiwillige in zwölf Länder. Umgekehrt kommen auch Jugendliche aus anderen Ländern nach Deutschland - und nach Dachau. "Sie leisten einen ganz elementaren Beitrag", sagt Klaus Schultz, der seit 18 Jahren Diakon der Versöhnungskirche ist und dabei mehr als 30 Freiwillige betreut hat. Rund 80 sind in den fünf Jahrzehnten nach Dachau gekommen. Viele stammen aus Ländern, die Hitlers Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg überfiel. "Diese Jugendlichen haben mit der Zeit eigentlich gar nichts mehr zu tun, und trotzdem engagieren sie sich hier. Das alleine ist schon eine Leistung."

Für die 15 Jugendlichen, die im September 1965 an die Gedenkstätte kamen, bedeutete der Freiwilligendienst eine deutliche Zäsur. "Die Erfahrung hat mich radikal verändert", sagt Günther Wahrheit. Sein Vater, der beim Russlandfeldzug der Wehrmacht dabei gewesen war, konnte sich nicht sonderlich für das Engagement des Sohnes begeistern. Auch der Ehemann von Berghofers Mutter, ein ehemaliger SS-Mann, fand die Idee der Stieftochter "entsetzlich". Die junge Frau machte sich trotzdem auf den Weg. Als Au-Pair in den Vereinigten Staaten hatte sie zum ersten Mal Juden kennengelernt. "In den USA wurde ich zur Deutschen gemacht", sagt sie, "da habe ich beschlossen, etwas zu tun."

Die Bevölkerung reagierte oft ablehnend

Für die jungen Frauen der Gruppe bedeutete das vor allem, zu kochen oder Schlafsäcke zu nähen. Die Männer arbeiteten am Bau der Versöhnungskirche. Der Bauunternehmer, erzählt Wahrheit, sei auch an der Errichtung des KZ beteiligt gewesen. "Das waren andere Zeiten", sagt er. Die Freiwilligen hausten in einer Baracke nahe der Baustelle. Aus der Bevölkerung schlug ihnen häufig Ablehnung entgegen. Man solle die Vergangenheit ruhen lassen, hieß es. Heute leben die Jugendlichen in einer Wohnung mitten in der Stadt. Ihre Arbeit ist von Kommunalpolitikern wie Bürgern gleichermaßen anerkannt.

Der Zusatz "Friedensdienste" wurde dem Namen der Organisation später angehängt, um mehr potenzielle Freiwillige anzusprechen. Doch auch das Wort Sühne blieb bis heute erhalten, es bietet einen willkommenen Diskussionsansatz. "Sühne bedeutet für uns nicht, das Geschehene rückgängig zu machen, sondern die Vergangenheit anzuerkennen, aus ihr zu lernen und neue Wege zu beschreiten," sagt Sebastian Weber. Die ersten Freiwilligen reisten Anfang 1966 aus Dachau ab. Dann blieb es 13 Jahre still, die Tür der Versöhnungskirche blieb oft verschlossen. 1979 setzten sich Kuratoriumsmitglieder der Versöhnungskirche für die Wiederbelebung der Kooperation mit ASF ein. Eine wegweisende Entscheidung. Seitdem steht die Versöhnungskirche den Besuchern immer offen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2658008
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 22.09.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.