Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:"Ich muss nicht alleine stark sein"

Anna S. wurde jahrelang von ihrem Ex-Mann gedemütigt und misshandelt. Vom Frauenhaus zog sie nun in ihre eigene Wohnung, die nur provisorisch eingerichtet ist - und lernt jetzt Selbstfürsorge.

Von Carlotta Böttcher, Dachau

Anna S. (Name von der Redaktion geändert) sitzt mit geradem Rücken. Die Schultern sind nach hinten gestrafft, nicht mehr so verkrampft. Dann kramt sie ihren rosafarbenen Wochenkalender aus der Tasche, schlägt ihn zielsicher beim 14. November auf. An jenem Tag hat sie ein Zitat aus einer Zeitung notiert: "Hinter jeder starken Frau stehen andere starke Frauen." Sie ist zufällig über ihn gestolpert, beim Warten im Caritas-Zentrum. Anna S. kommt jede Woche dorthin. Manchmal weint sie sich aus, mal kämpft sie gegen ihre Panikattacken oder fragt nach Hilfe im Dickicht der Bürokratie.

Der Satz berührt S. "Alle sagen mir immer, ich bin stark, auch wenn ich mich manchmal nicht so fühle", sagt sie. "Als ich das gelesen habe, ist mir bewusst geworden: Ich muss nicht alleine stark sein. Da sind viele starke Frauen hinter mir."

Die Anfang 50-Jährige wurde über Jahre hinweg von ihrem Ex-Mann gedemütigt und erfuhr Gewalt und Traumatisierung in der Beziehung. Schließlich gelang ihr die Flucht ins Dachauer Frauenhaus, "mit einem kleinen Köfferchen nur mit meinen Papieren und dem Allernötigsten." S. befand sich damals in einer akuten psychischen Krise. Das Frauenhaus schaltete den Krisendienst Psychiatrie der Caritas dazu. Auch heute wird S. noch von der Caritas und einem externen Psychiater betreut.

Mosaiksteine, um die Krise zu bewältigen

Ihre Geschichte zeige, wie hilfreich und oft lebensrettend das Zusammenwirken der verschiedenen Anlaufstellen für Frauen mit Gewalterfahrung sei, sagt Ursula Hannemann. Sie ist Sozialpädagogin in der Beratungsstelle des Sozialpsychiatrischen Diensts der Caritas und betreut Anna S., seitdem diese in Dachau lebt. "Der Fall war so komplex, da waren alle Helferinnen notwendige Mosaiksteine, um die Krise zu bewältigen", sagt Hannemann. Man könne in einer akuten Situation nicht lange warten, bis ein Neurologe oder Psychiater einen Termin frei habe, so Hannemann. Anna S. hat die vielfältige Unterstützung angenommen, sie habe einen richtigen Hunger nach Therapien und Gesprächen entwickelt: "Ich habe Ziele, ich will raus, ein selbst bestimmtes Leben führen."

Inzwischen ist sie aus dem Frauenhaus ausgezogen und lebt in einer eigenen Wohnung. Als S. von der Möglichkeit erfuhr, musste sie gleichzeitig lachen und weinen: "Ich hatte Angst, das Frauenhaus und die Sicherheit dort zu verlassen." Die Leiterin des Frauenhauses habe sie anfangs zu jedem Termin begleitet, ihre Kleidung, ihr ganzes Hab und Gut - alles habe sie vom Frauenhaus bekommen. "Das war ein geborgenes Nest, da bin ich neu geboren", erzählt S. Nun kommt der zweite Schritt, die eigene Wohnung. Jetzt könne sie entscheiden, in welcher Farbe sie die Wand streicht oder welches Möbelstück im Wohnzimmer steht. "Es ist endlich Zeit für mich gekommen."

Provisorische Einrichtung

Die Anfang 50-Jährige spricht mit vorsichtiger Zuversicht von ihrem neuen zu Hause, die Erschöpfung der letzten Tage hört man ihr an. Sie sagt: "Ich bin glücklich müde." Die fehlenden Lampen an der Decke hat S. provisorisch durch Weihnachtsbeleuchtung ersetzt, Tee und Plätzchen serviert sie ihren Gästen auf zwei übereinander gestapelten Umzugskartons. Und die Matratze liegt auf dem Boden, trotz Rückenschmerzen vom Umziehen, Putzen und Streichen. Mit der Unterstützung des Adventskalenders für gute Werke der Süddeutschen Zeitung könnte sich das ändern.

Anna S. lernt jetzt, sich um sich selbst und nicht nur um andere zu kümmern. Sie geht zum Zahnarzt, "nur für mich und für meine Zähne". Sie braucht eine neue Schiene gegen das nächtliche Zähneknirschen, die Alte hat sie fast durchgebissen. Auch ihre Körperhaltung ist wieder aufrecht, die Hände nicht mehr in Abwehrhaltung vor ihrer Brust verschränkt wie früher: "Frau Hannemann hat mir gezeigt, wie ich meine Panikattacken unter Kontrolle bekomme. Ich bin jetzt viel weniger verkrampft, habe keine Angst mehr, keine Luft zu bekommen."

"Es wird schon, langsam wird es."

Frei atmen können, den Kiefer entspannen, eine aufrechte Körperhaltung: Hannemann sagt, die Folgen einer Traumatisierung spiegeln sich immer auch auf der körperlichen Ebene wieder. Wenn es der Psyche anfängt besser zu gehen, wird der Genesungsprozess auch an den körperlichen Reaktionen sichtbar. Sie sagt, S. habe eine starke Grundpersönlichkeit, sie sei geborgen aufgewachsen und erst durch die langjährige gewalttätige Traumatisierung gebrochen. Aber sie komme dem Ziel, sich zu stabilisieren, immer näher: "Ich sehe, da wächst etwas hin zur Selbstermächtigung - das ist schön."

Die Geschichte von Anna S. ist vor allem eine der Ermutigung und der Stärke. Manchmal kommen ihr die Tränen, während sie spricht. Dann muss sie innehalten, tief Luft holen, ein- und ausatmen. Die Tränen sind gut, das weiß sie inzwischen. "Ich muss weinen, um den Schmerz und den angestauten Dreck heraus zu spülen", sagt S. "Das ist mein Leben und ich mache das jetzt, ich genieße es." Ihre Betreuerin Hannemann sagt: "Es gibt da kein Zögern mehr, kein Entweder Oder. Frau S. hat sich entschieden: Sie will selbst bestimmt leben."

Die neue Nachbarin von Anna S. hat schon bei ihr geklingelt, ihr Blumen geschenkt. Anna S. sagt: "Es wird schon, langsam wird es."

Der Krisendienst Psychiatrie der Caritas ist unter folgender Telefonnummer erreichbar: 0800 655300-0

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