Dachau:Flucht vor den Nazis nach Palästina

Jan Mühlstein liest in der Versöhnungskirche aus dem Tagebuch seines Onkels Josef Viktor.

Von Jeannette Oholi, Dachau

Tausende verfolgte Juden flüchteten nach der Machtergreifung Hitlers aus Europa. Eines der wichtigsten Exilländer war Palästina. Josef Viktor ("Peppo") Mühlstein, geboren 1903 im nordböhmischen Most, war einer der Flüchtlinge, die eine illegale Einwanderung nach Palästina wagten. Sein Reisetagebuch, das seine Nichte viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Tod von Peppo in dessen Nachlass fand, gewährt einen Einblick in die ungewisse Flucht aus der von den Nazis besetzten Tschechoslowakei über das Mittelmeer ins heutige Israel. Jan Mühlstein, Neffe des Geflohenen, schrieb die Aufzeichnungen seines Onkels ab und las daraus erste Mal öffentlich vor. Dazu wählte er die Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau.

Den "schmerzlichsten Tag" in seinem Leben erlebte Peppo am 30. April 1939. An diesem Tag musste der jüdische Handelsvertreter in Prag Abschied nehmen von seiner Familie. Ein Zug sollte ihn über Iglau nach Wien bringen. Die erste Etappe einer Flucht von Prag nach Tel Aviv. Eine Flucht vor Verfolgung und Tod ins Leben. Nicht alle seine Lieben sah Peppo nach dem Krieg wieder, denn der Rest der Familie konnte die hohe Auswanderungsgebühr nicht aufbringen. Seine Schwester Anna, ihr Sohn und ihr Mann sowie Peppos jüngster Bruder wurden 1944 in Auschwitz ermordet.

Bilder zu Mühlstein

Jüdische Emigranten aus Europa verlassen die Boote am Strand von Palästina.

(Foto: Jan Mühlstein)

Flucht übers Meer

Die Tagebuchaufzeichnungen setzen am 15. Juni 1939 ein. Rückblickend beschreibt Peppo die ersten Wochen seiner Flucht. Die Auswanderung wurde zu dieser Zeit noch von den Behörden bewilligt. In einer "Transportkanzlei" in Prag bezahlte Peppo das Geld für die Flucht im Voraus. In seinem Tagebuch schreibt Peppo über seine Auswanderung: "Die Organisation eines illegalen Transportes hat etwas eigenes an sich. In diesem Falle ist nur der letzte Prozess des ganzen Transportes ungesetzlich, nämlich die Einwanderung." Juden auf dem Weg nach Palästina brauchten ein Zertifikat der britischen Mandatsregierung. Da die Briten im Laufe der Zeit eine immer restriktivere Politik betrieben, blieb vielen nur die illegale Einwanderung. Viele Flüchtlinge wurden von britischen Patrouillenbooten aufgegriffen, zurückgeschickt oder interniert.

Nach der Ankunft in Wien, bestieg Peppo einen Dampfer, der ihn und mehr als sechshundert andere Flüchtlinge die Donau abwärts nach Ungarn und schließlich nach Jugoslawien führte. Die Gastfreundschaft und Hilfe, die den Reisenden von jüdischen Gemeinden entgegen gebracht wurde, empfand Mühlstein als überwältigend. Menschen strömten herbei, brachten Lebensmittel und nahmen die Post der Flüchtlinge entgegen. "Immer wieder stießen wir dort, wo unser Schiff hielt und wo sich Juden befanden, auf diese wirklich herzliche Teilnahme. Aber noch wertvoller als alle diese Geschenke, war für uns die Erkenntnis, dass es noch auf der Welt Menschen gibt, und dass wir Juden, solange wir zusammenhalten, nicht verloren sein können", schreibt er. In Sulina, im heutigen Rumänien, sollten die Passagiere auf einen "Seedampfer", mit dem Namen "Frossoula" umsteigen. Da das Schiff noch nicht vorbereitet war, verzögerte sich die Weiterreise. Erst am 31. Mai 1939 stach die Frossoula schließlich in See und Peppo erwartete mit Sehnsucht "den Anblick des richtigen Meeres". Dass die Passagiere entgegen der Einschätzungen des Kapitäns und der Matrosen nicht 10 Tage brauchten, um nach "Eretz Israel" zu gelangen, sondern mehr als drei Monate, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen.

Bilder zu Mühlstein

Josef Viktor ("Peppo") Mühlstein, geboren 1903 im nordböhmischen Most, war einer der Flüchtlinge, die eine illegale Einwanderung nach Palästina wagten.

(Foto: Jan Mühlstein)

Durch die Meerenge des "Goldenen Horns", vorbei an Istanbul, fuhr die Frossoula durch das Ägäische Meer. Nach sechs Tagen auf See sollten die Flüchtlinge auf der Höhe von Tripolis in Syrien von einem Motorboot an Land gebracht werden. Doch das Boot kam nicht. Auch der zweite Versuch, an Land zu gelangen, missglückte. Das Schiff wurde von der Küstenwache entdeckt. Erst in Tripolis erhielt die Frossoula die Erlaubnis, länger anlegen zu dürfen, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen.

Von jubelnden Menschen empfangen

Die nächste Etappe der Reise war Beirut, wo das Schiff am 14. Juli ankam. Dort wurden die Passagiere mehrere Wochen in einer Quarantänestation an Land untergebracht. Erst am 30. August konnte die Frossoula wieder auslaufen. Auf offenem Meer sollten die Passagiere der Frossoula auf ein anderes Schiff, die Tiger Hill, umsteigen. Das waghalsige Unternehmen geschah in den frühen Morgenstunden. Die Tiger Hill, auf der sich bereits mehr als 800 Menschen befanden, nahm Kurs auf die palästinensische Küste und warf in unmittelbarer Nähe den Anker aus. "Plötzlich sahen wir eine rote Rakete, dann noch eine und schließlich sah man ein Boot mit Scheinwerfer." Als sich das Schiff wieder in Bewegung setzte, "begann ein Maschinengewehr zu schießen". Zwei Passagiere auf der Frossoula starben. Trotz aller Gefahren und der drohenden Bestrafung der Schiffsbesatzung wagte die Frossoula am Morgen des 2. Septembers 1939 eine erneute Landung, die glückte.

Dachau: Jan Mühlstein hat das Tagebuch seines Onkels über die Flucht nach Palästina transkribiert.

Jan Mühlstein hat das Tagebuch seines Onkels über die Flucht nach Palästina transkribiert.

(Foto: Toni Heigl)

Vom Empfang am Strand in Tel Aviv zeigt sich Peppo in seinen Aufzeichnungen tief beeindruckt: "Es war Shabbat", schreibt er, "der ganze Strand voller Menschen, die bis zu unserem Schiff schwammen und uns begeistert zujubelten. Der Anblick, der sich mir in der Früh bot, war hinreißend." Nach vier Monaten und elf Tagen war die Reise für Peppo zu Ende. Er hoffte, in "Eretz Israel" eine "neue Heimat" zu finden. Dieser Wunsch ging leider nicht in Erfüllung. Als Hausierer versuchte sich Peppo mit dem Verkauf von Zigaretten und Streichhölzern in Tel Aviv über Wasser zu halten. Im Juni 1946 kehrte er schließlich in die Tschechoslowakei zurück. Peppo zog in sein Elternhaus in Most und lebte dort bis zu seinem Tod im Jahr 1978.

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