Dachau:Erzählen als Heilmittel

In dem Buch "Beidseits von Auschwitz - Identitäten in Deutschland nach 1945" des Psychologen Jürgen Müller-Hohagen öffnen sich 30 Autoren der oft unausgesprochenen Last ihrer Vergangenheit

Von Jeannette Oholi, Dachau

In vielen Familien in Deutschland und Europa wird immer noch geschwiegen: über die Beteiligung von Mitgliedern an der NS-Vergangenheit Deutschlands und über die unsagbar schmerzvolle Verfolgungsgeschichte der eigenen Familie als Opfer des Nationalsozialismus. In dem Buch "Beidseits von Auschwitz - Identitäten in Deutschland nach 1945", brechen 30 Männer und Frauen dieses Schweigen und gewähren persönliche Einblicke in ihre Lebens- und Familiengeschichten. Das Buch des Dachauer Psychologen Jürgen Müller-Hohagen und der Schriftstellerin Nea Weissberg ist in der Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte vorgestellt worden.

Zentral in dem Buch ist die Frage, inwieweit die Shoah und das Nazi-Regime die Identitäten von Nachkommen sowohl der Täter als auch der Opfer geprägt haben. In den Beiträgen zeigt sich eine Verknüpfung von Identität, Vergangenheit und Familiengeschichte. Nachkommen von Verfolgten und Nachkommen von Verfolgern kommen zu Wort. Die Autorinnen und Autoren sind zwischen 1937 und 1987 geboren. Sie stammen aus Deutschland (BRD, West- und Ostberlin), der Schweiz, Österreich, Rumänien, Polen und Israel und beschreiben, wie sie als Nachkommen mit dem Erbe der Geschichte umgehen. Jürgen Müller-Hohagen betont an dem Abend, wie wichtig es ihm als Mitherausgeber gewesen sei, eine Ausgewogenheit zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Autoren sowie zwischen Ost und West in dem Buch herzustellen.

Buchvorstellung

Mitherausgeber Jürgen Müller-Hohagen hat sich in die Geschichte seiner Familie vertieft.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Thomas Nowotny, der aus einer jüdischen Familie stammt, berichtet in seinem Beitrag, wie er die Verfolgungsgeschichte seiner Familie erforschte. Nowotnys Mutter überlebte die NS-Zeit im Exil. Max, seinem Großonkel, gelang die Flucht ins Ausland jedoch nicht. Er wurde in Auschwitz ermordet. Eine Studienreise im Jahr 2008 führte Nowotny nach Auschwitz. Nachdem er Rosen vor eine Gaskammer legte, spürte er Ruhe und Trauer, schreibt Nowotny. In der Familie wurde über die Verfolgung gesprochen, vieles fand er jedoch erst durch seine Nachforschungen heraus. So auch, dass Familienmitglieder im KZ Dachau interniert waren. Er schrieb Gedächtnisblätter über seine Verwandten, die man heute in der Gedenkstätte lesen kann. Die Last der Familiengeschichte werde leichter, wenn man sie genauer betrachtet, sagt Nowotny.

Der Künstler Alfred Ullrich, 1948 in Schwabmünchen bei Landsberg geboren, beginnt seinen Beitrag mit seinem Bruder, den er nie kennengelernt hat, dessen Namen er jedoch trägt. Ullrichs Bruder sowie seine Großeltern wurden verschleppt und vermutlich in Auschwitz getötet. Seine Mutter, eine Sintiza, überlebte das Konzentrationslager. Nach der Trennung vom Vater, einem Deutschen, zog die Mutter 1952 nach Wien zurück. Dort wuchs auch Ullrich auf. Die Mutter hat nach dem Krieg die erlittenen Demütigungen und Verletzungen immer mit und in sich getragen. Viele Jahrzehnte wurde den Sinti und Roma ihr in der NS-Zeit widerfahrenes Leid abgesprochen. In den 80er Jahren wurden sie als Verfolgte des Nationalsozialismus endlich anerkannt. Erst in hohem Alter habe die Mutter unbewusst Dinge aus der Vergangenheit erzählt, sagt Ullrich. Als Kind habe er eine "Leere" empfunden. Das "Post-Nazi-Wien" habe ihm das Gefühl gegeben, "an irgendetwas Schuld zu sein". Ullrich entfloh der Enge Wiens, reiste ruhelos mehrere Jahre durch Europa und wurde Künstler. In der Nähe von Dachau ließ er sich schließlich nieder. Auch er fand heraus, dass Angehörige im KZ Dachau interniert waren.

Buchvorstellung

Der Künstler Alfred Ullrich, 1948 in Schwabmünchen bei Landsberg geboren, beginnt seinen Beitrag mit seinem Bruder, den er nie kennengelernt hat.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

In den 60er Jahren traf Ulrich seinen Vater, der immer noch von den Nazis schwärmte, schildert Ullrich. Der Künstler brach den Kontakt ab. Mit der Frage nach Identität, Identitätsbrüchen und Identitätsverleugnungen setzte sich Ullrich nach und nach kreativ auseinander. In seinem Buchbeitrag stellt er sich die Frage, ob seine Identität als gebrochen bezeichnet werden kann. Darauf findet er keine eindeutige Antwort. Ullrich lehnt es ab, auf nur eine Identität festgelegt zu werden. Seine Identität ist so facettenreich wie seine Kunstprojekte.

Der Psychologe Jürgen Müller-Hohagen, 1946 in Westfalen geboren, beschäftigt sich seit dreißig Jahren mit den seelischen Nachwirkungen der NS-Zeit. Er erzählt von seinem Heimatdorf, über das ein "brauner Nebel", ein Gemisch aus "Schweigen und Leugnen", lag. Der frühe Tod seines Vaters erschwerte die Nachforschungen über die Familiengeschichte. Als eine seelische Ursache für den Herzinfarkt des Vaters sieht Müller-Hohagen das Schweigen. Der Vater habe nie erzählt, "ob ihn etwas umtrieb". Der Therapeut vermutet, dass er Schuld empfand, da er den russischen Kriegsgefangenen, die in derselben Fabrik arbeiten mussten, nicht half. Später wurde Müller-Hohagen mit dem eigenen Schweigen und der Verleugnung konfrontiert. Er setzte sich mit seiner Familiengeschichte und der Identität als Nachkomme von Verfolgern auseinander. Die Entstehung des Buches beschreibt Müller-Hohagen als einen "bewegenden Prozess", da sich die Autoren gegenseitig geholfen hätten, über "Abgründe" hinwegzukommen.

"Beidseits von Auschwitz - Identitäten in Deutschland nach 1945", Lichtig-Verlag, Berlin 2015

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