Süddeutsche Zeitung

Dachau:Ein richtiger Kosmos

Michael Braun und Klaus Mai erzählen die Geschichte von Ludwigsfeld mit neuen Aspekten im Dachauer Wasserturm

Von Walter Gierlich, Dachau

Menschen aus 32 Nationen, Opfer und Täter der rassistischen Nazi-Politik Tür an Tür. Für viele Außenstehende war die Siedlung Ludwigsfeld im (beinahe) Niemandsland am Münchner Stadtrand eine No-Go-Area, wie man heute sagen würde. "Glasscherbenviertel" oder "Mau-Mau-Siedlung" wurden die 1951/52 errichteten Blöcke mit 690 Wohnungen genannt, Vorurteile prägten die Sicht auf die Bewohner. Eine Ausstellung im Dachauer Wasserturm, die der Münchner Stadtteilhistoriker Klaus Mai und der aus Dachau stammende, seit Jahren in Ludwigsfeld lebende Künstler und Physiotherapeut Michael Braun zusammengestellt haben, präsentiert die wirkliche, vielfältige Geschichte des Viertels, die eine Erfolgsstory gelungener Integration ist, von Menschen aus vielen Länder, unterschiedlichster Kulturen und Religionen.

Bis heute seien die Bewohner eine Gemeinschaft, die fest zusammenhält, sagten Anusch und Johannes Thiel, die wie viele andere Ludwigsfelder zur Vernissage nach Dachau kamen. Es sei eine besondere Ausstellung, erklärte Karin-Renate Oschmann, die Vorsitzende des Fördervereins Wasserturm, schließlich werde die Geschichte des KZ-Außenlagers Dachau-Allach hier im Herzen der Stadt gezeigt. Michael Braun, der die Veranstaltung mit seinen Manischen Multikulti-Musikern und Liedern aus Weißrussland und anderen Ländern Osteuropas umrahmte, erinnerte nachdrücklich daran, wie wenig man in Dachau über Ludwigsfeld wisse, wo es seit Generationen "ein gelungenes Zusammenleben vieler Völker" gebe. Die Siedlung, die auf dem Boden des KZ-Außenlagers errichtet wurde, ist in seinen Augen "eine friedliche Oase in einem Meer von Bäumen". Schließlich betonte er noch: "Mir liegt viel daran, diesen Ort den Dachauern näherzubringen."

Die Fakten der bewegten Historie des kleinen Straßendorfs, das um 1800 wie das benachbarte Karlsfeld und Augustenfeld als Kolonie zur Trockenlegung und Urbarmachung des Dachauer Mooses gegründet wurde, hat Klaus Mai in seiner Dokumentation zusammengetragen. Sie sind auf drei Stockwerken auf höchst informativen Bild- und Texttafeln zu sehen, beginnend bei ersten, mehr als 2500 Jahre alten Zeugnissen menschlicher Besiedlung in diesem Raum aus Hügelgräbern im Allacher Forst bis zum kleinen, immer noch weitgehend isolierten Stadtteil von heute, der neben einer katholischen und evangelischen auch eine russisch-orthodoxe, eine ukrainisch-orthodoxe Kirche sowie einen buddhistischen Tempel beherbergt.

Wirklich interessant wird die Geschichte des Ortes mit der Gründung des BMW-Flugmotorenwerks im Jahr 1936, dort wo heute das MAN-Werk liegt. Als im Zweiten Weltkrieg immer mehr Arbeiter zur Wehrmacht eingezogen wurden, heuerte die Firma von ab 1941 im Ausland zunächst Fremdarbeiter an, die sich frei bewegen konnten. Bald schon reichte die Zahl der Arbeitskräfte nicht mehr, und es wurden Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene zur Produktion eingesetzt.

Im März 1943 schließlich wurde das KZ-Außenlager Dachau-Allach, im Juli 1944 das Lager Allach-Karlsfeld der Organisation Todt eingerichtet, in das vor allem Juden aus Auschwitz und dem Warschauer Ghetto gebracht wurden. Der Gesamtkomplex mit einer Kapazität für 9300 Gefangene gehörte zu den größten Außenlagern des Dachauer KZ. Tausende Häftlinge mussten unter schlimmsten Bedingungen für die deutsche Rüstungsindustrie schuften, nach den Forschungen Mais sind mehr als 1700 von ihnen ermordet worden. Am 30. April 1945 wurde das Lager von US-Truppen befreit.

Danach diente das Lager als Wohnstatt für Displaced Persons (DPs), von Dezember 1945 als Kriegsflüchtlingslager, ehe 1950 die meisten der Lagerbaracken abgerissen wurden, um auf Geheiß des US-Militärs dort eine Wohnsiedlung für DPs zu errichten und zwar für solche, die die strengen Bedingungen für eine Auswanderung in die USA nicht erfüllten, wie Mai in seiner Eröffnungsrede sagte: "Es waren die Verlierer des Krieges." Zwangsarbeiter, die nicht in ihre Heimatländer in der Sowjetunion zurück konnten oder wollten, KZ-Häftlinge, Soldaten, die auf deutscher Seite gekämpft hatten, aber auch Vertriebene aus deutschen Ostgebieten. "Alle Bürger der neuen Siedlung waren durch die Kriegswirren hier gestrandet", so Klaus Mai. "Die Deutschen mochten diese Personen nicht." Sie seien von Behörden, aber auch der Presse diskriminiert worden, und es sei kein Zufall, dass die aus dem bayerischen Staatshaushalt finanzierte Siedlung am Stadtrand errichtet wurde, weitab von der "feinen" Münchner Gesellschaft.

Gerade diese vorurteilsbehaftete Verachtung war es aber, die das bunte Völkergemisch zusammengeschweißt hat. "Die Ludwigsfelder können stolz sein auf ihre Integrationsleistung", betonte Mai. So konnte sich ein Miteinander entwickeln, das durch ein vielfältiges kulturelles Leben mit Folkloregruppen, Theaterensembles und Bands, wie die auch in Dachau legendären Hound Dogs, gekennzeichnet ist - den Ludwigfelder Kosmos, wie ihn Klaus Mai nennt. Die "Hound Dogs" sind auch am Sonntag, 27. Mai, dabei, wenn sich das Stadtviertel am Wasserturm musikalisch präsentiert. Von 16.30 Uhr an treten dann bei freiem Eintritt auch der "Ludwigsfelder Chor" und die "Lukrainians" auf.

Die Ausstellung "Vom KZ-Außenlager zur Siedlung Ludwigsfeld" ist noch bis zum 4. Juni, im Wasserturm am Hofgartenweg zu sehen. Öffnungszeiten sind Freitag, 16 - 19 Uhr, Samstag, Sonntag und Feiertag, 14 bis 18 Uhr. Führungen finden an den Sonntagen, 21. Mai und 4. Juni, von 14 Uhr an statt.

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Quelle:
SZ vom 23.05.2017
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