Die Liste mit den Namen der jüdischen Bürger in Dachau war schon vorbereitet. Am Abend des 8. November 1938 vertrieben zwei SA-Männer die Familien aus der Stadt. Nur wenige entkamen dem Holocaust. Ruth Locke, die letzte Überlebende, starb im November 2012 in England. 24 Stunden nach der Vertreibung der Dachauer Juden brannten in ganz Deutschland mehr als 1400 Synagogen. Tausende von Geschäften, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört und geplündert - alles unter den Augen der deutschen Bevölkerung; die Mehrheit johlte begeistert oder wandte sich gleichgültig ab. Hunderte Juden wurden ermordet oder in den Suizid getrieben und ungefähr 30 000 in Konzentrationslager verschleppt, mehr als ein Drittel davon in das KZ Dachau. Zum 78. Jahrestag der Novemberpogrome spricht im Dachauer Rathaus erstmals der Holocaust-Überlebende Heinz Salvator Kounio, 89, aus der jüdischen Gemeinde in Thessaloniki.
Zu seinem Besuch erscheint die deutsche Übersetzung seines Buches "Ein Liter Suppe und 60 Gramm Brot - Das Tagebuch des Gefangenen 109565". Björn Mensing, Landeskirchlicher Beauftragter für evangelische Gedenkstättenarbeit und Pfarrer an der Versöhnungskirche, hat den Zeitzeugen nach Dachau eingeladen. Heinz Salvator Kounio wurde am 19. Juni 1927 im damals tschechoslowakischen Karlsbad geboren. Die Mutter war eine sudetendeutsche Jüdin, der Vater stammte aus Thessaloniki, wo Kounio aufwuchs. 1943 wurden der 15-jährige Heinz Kounio zusammen mit seinen Familienmitgliedern von den deutschen Besatzern seiner griechischen Heimat in einem entsetzlichen Transport von Thessaloniki ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt. 23 Mitglieder seiner Familie wurden gleich nach der Ankunft ermordet. Er selbst arbeitete unter unvorstellbaren Lebensbedingungen 27 Monate lang in diesem und in weiteren Lagern. Im Mai 1945 wurde er von amerikanischen Truppen aus dem Lager Ebensee in Oberösterreich, einem Außenlager des KZ Mauthausen, befreit.
Eine Botschaft an die deutsche Jugend
Heinz Kounio hat 1981 seine Erinnerungen in Griechenland veröffentlicht, er ist aktiv im Vorstand der Jüdischen Gemeinde Thessaloniki. Die deutsche Ausgabe seines Buches liegt ihm besonders am Herzen: "Dieses Mal ist es in ihrer Sprache an die Deutschen und insbesondere an die deutsche Jugend adressiert", schreibt er im Geleitwort zur deutschen Übersetzung. Wie so viele Zeitzeugen richtet Heinz Kounio seine Hoffnung auf die jüngeren Generationen: dass aus der Geschichte des Holocausts die Einsicht erwächst, wie wichtig es ist, gegen den in Deutschland und Europa erstarkenden Rassismus, Antisemitismus und völkischen Nationalsozialismus aufzutreten.
Noch lange Jahre nach Kriegsende wurde das Schicksal der Dachauer Juden in der Stadt verschwiegen. Am 20. Januar 1939 hatte der Dachauer Bürgermeister und SA-Standartenführer Hans Cramer, der später am Massenmord der Juden in der litauischen Stadt Kaunas beteiligt war, an den NSDAP-Kreisleiter Hans Eder geschrieben: "Die Stadt Dachau ist somit heute völlig judenfrei." Bis der SZ-Journalist Hans Holzhaider die Geschichte der Opfer erforschte und 1984 unter dem Titel "Vor Sonnenaufgang" ein Buch darüber veröffentlichte. Ihre Namen: Samson Gutmann, Viehhändler, Heinrich Hirsch, ehemaliger Zeitungsverleger, Julius Kohn, Kaufmann, Johann Neumeyer, Musiklehrer, seine Frau Vera und ihre Kinder Ruth und Raimund, Meinhold Rau, Justizrat, seine Frau Julia, Max Wallach, Ingenieur, seine Frau Melitta, ihr gemeinsamer Sohn Franz Julius, Johanna Jaffé, Privatsekretärin, Kurt Bloch, Diplomvolkswirt.
Das Ende der jahrtausendalten jüdischen Präsenz
Sie wohnten in der Hermann-Stockmann-Straße, in der Taubenbergerstraße, in der Weinmannstraße oder Münchner Straße - alle mitten in Dachau. "Das deutsche Judentum war so tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelt, dass der Schlag des Nationalsozialismus es von innen traf", schrieb der israelische Historiker Walter Zwi Bacharach. Der vom Naziregime geplante Pogrom, der nach außen als spontane Volkserhebung dargestellt wurde, stellt einen Wendepunkt in der antijüdischen Politik Deutschlands dar. Nach den Jahren der Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung wurde von den Nazis damit das Ende der jahrtausendalten jüdische Präsenz in Deutschland signalisiert - am Ende stand der Massenmord an sechs Millionen europäischen Juden.
50 Jahre nach ihrer Vertreibung kam Ruth Neumeyer zum ersten Mal wieder nach Dachau, zur Eröffnung der Ausstellung "Dachau ist somit judenfrei" im Rathaus. Es war kein leichter Entschluss, insbesondere nachdem es in der Stadtverwaltung ein etwas unwürdiges Gezerre um die Errichtung einer Gedenktafel für die ehemaligen jüdischen Bürger gegeben hatte. 2004 stimmte der Stadtrat einstimmig der Verlegung der "Stolpersteine" vor den Häusern der früheren jüdischen Bürger zu. Ein Jahr später brachte Ruth Locke ihren Sohn Nicolas mit nach Dachau. Frank Wallace (ehemals Franz Wallach) kam mit seiner Frau. Doch die jüdische Geschichte Dachaus ist ausgelöscht - "es hat sich kaum angefühlt wie unser Haus", sagte Ruth Locke bei ihrem Besuch.